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29.03.2019 | 07:13 | Optimismus statt Apokalypse 

Die Grünen mutieren zur neuen Volkspartei

Berlin - Viel Zeit zu haben, kann ein Geschenk sein - oder ein Problem. Bis die Grünen die nächste Chance bekommen, Teil der Bundesregierung zu werden, könnten noch zweieinhalb Jahre vergehen.

Die Grünen
Die Grünen gelten als Anwärter auf den Volkspartei-Status, seit sie die SPD in Umfragen ein- und sogar überholt haben. Die Parteichefs Habeck und Baerbock setzen auf einen anderen Begriff - könnten aber bald mit denselben Problemen kämpfen wie SPD und Union. (c) proplanta
Eine Spanne, die Robert Habeck und Annalena Baerbock nach ihrem Raketenstart als Parteivorsitzende überbrücken müssen. Unterwegs drohen Wahlniederlagen, politische Fehler, die Abnutzung des frischen Images, das den beiden noch anhaftet. Kann es nicht fast nur nach unten gehen von den 19-Prozent-Umfragen? Wie vermeidet man, dass die Erfolgswelle abebbt? Da kommt ein wenig Selbstfindung gerade recht.

Seit Monaten arbeiten die Grünen an einem neuen Grundsatzprogramm. Bis es fertig ist, werden noch eineinhalb Jahre vergehen. Sie haben ja Zeit. Was Habeck und Baerbock an diesem Freitag in Berlin vorstellen, ist ausdrücklich kein Programmentwurf, sondern ein «Zwischenbericht». Doch die 65 Seiten mit dem Titel «Veränderung in Zuversicht» geben eine ganz gute Idee davon, wo es hingehen soll.

Nur ein paar Stichworte: Umwelt- und Klimaschutz stehen ganz oben. Technologischer Wandel ist nicht vorrangig bedrohlich, sondern eine Chance, solange der Mensch die Oberhand behält. Die Polizei ist «Verteidigerin von Rechtsstaat und Demokratie». Die EU soll zur «föderalen Republik» zusammenwachsen. Marktwirtschaft ist nicht des Teufels, muss aber ökologisch und sozial sein. Keine Weltuntergangsfantasien, keine Drohung mit der Apokalypse, sondern Optimismus: Die Probleme sind lösbar, wir wollen sie anpacken.

Ein Gedanke zieht sich durch den Text: Der des Bündnisses, den die Grünen seit der Fusion mit dem ostdeutschen Bündnis 90 im Namen tragen. Er soll die nächste Phase der Partei prägen. Nicht abgrenzend, sondern einladend, so wollen diese neuen Grünen sein.

Neue Grüne? «Kein wohin ohne woher», sagt Michael Kellner, der Politische Bundesgeschäftsführer. Es sind einige Gründungsmitglieder und Funktionäre der frühen Grünen-Jahre da, Eva Quistorp und Lukas Beckmann etwa, Marianne Birthler vom Bündnis 90. Als Kellner die mehr als 700 Teilnehmer fragt, wer seit 2018 eingetreten ist, heben viele die Hand. Rund 78 000 Mitglieder hat die Partei inzwischen. Ein Film erinnert an die Ursprünge: «Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.»

Aber Nostalgie ist nicht das Thema in der hippen Ostberliner Halle. «Wir wollen uns mit dem nächsten Grundsatzprogramm neu aufstellen, als Bündnispartei mit Wertekompass», erklärt Baerbock. «Wir richten uns an die Breite der Gesellschaft und nehmen das demokratische Gemeinwesen als Ganzes in den Blick.» Raus aus der grünen Nische also, offen für den Dialog mit fast allen Teilen der Gesellschaft.

Während CDU und SPD sich derzeit eher auf ihre konservativen beziehungsweise linken Ursprünge besinnen und ihre Kernklientel umgarnen, planen die Grünen genau das Gegenteil. Dabei tun sich allerdings - mindestens - zwei Widersprüche auf. «Wir können mit jedem» oder «Wir sind radikal»?

Die Grünen regieren in den Ländern mit CDU, SPD, FDP und Linken bunt gemischt. Ein erstes Bündnis mit der Union im Bund scheint nur eine Frage der Zeit. Diese Anschlussfähigkeit soll bleiben, es geht ja ums «Gestalten», also um Macht - aber auch darum, überhaupt Mehrheiten ohne AfD zu ermöglichen, wenn die Bindekraft von Union und SPD schwindet. Zugleich sprechen die Spitzengrünen seit einigen Monaten von «Radikalität», die der neue Realismus sei, vor allem beim Umwelt- und Klimaschutz. Ab 2030 keine neuen Diesel und Benziner mehr, bis 2030 volle 100 Prozent Ökostrom - das macht so kein Koalitionspartner mit.

Andererseits: Wo sie regieren, zeigen die Grünen, dass sie auch ohne Radikalität klarkommen. Und Radikalität klingt gut für diejenigen, die aus der «Fundi»-Tradition kommen und eigentlich kein Interesse daran haben, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. «Wir sind für jeden da» oder «Es geht ums Gemeinwohl»?

Mit ihrer politisch sehr korrekten Sprache und Haltung, mit Unisex-Toiletten und Gendersternchen gehen die Grünen vielen auf die Nerven. Respekt vor und Einsatz für Minderheiten steckt in ihren politischen Genen, dazu kommt ein gewisses Avantgarde-Gefühl. Doch nun heißt es in der Präambel des Grundsatz-Papiers: «Unsere Politik richtet sich an alle Bürger*innen.» Man verstehe sich als Bündnispartei, die «permanent an einer gelebten Gemeinsamkeit arbeitet». Die ganz große Umarmung also.

Das Für-alle-da-sein-Wollen ist ureigenes Terrain der Volksparteien. Und die bekommen gerade zu spüren, wie schwierig es ist, wenn Milieus zerfallen und die Gesellschaft auseinanderdriftet. Die Grünen reden längst nicht mehr nur mit Greenpeace und Pro Asyl, sondern auch mit Industrie, Gewerkschaften und dem Bauernverband. Dass Ausgleich und Kompromiss immer gelingen, darf ausgeschlossen werden.
dpa
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