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17.11.2021 | 11:04 | Wald in Not 

Kritik an vorschnellen Forstmaßnahmen im Kampf gegen Borkenkäfer

Montabaur - Weit geht der Blick über eine leere dunkle Fläche mit zahllosen Baumstümpfen. Die Aussicht von der Montabaurer Höhe im Westerwald macht ratlos.

Forstwirtschaft
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Dürre und Borkenkäfer haben den Fichtenwäldern zugesetzt. Wissenschaftler und Naturschützer empfehlen aber eine andere Strategie als das schnelle Fällen von Bäumen - und fordern einen anderen Umgang mit dem Wald in FFH-Schutzgebieten. (c) proplanta
Die zuständige rheinland-pfälzische Behörde Landesforsten antwortet auf einer Info-Tafel mit einer Frage: «Was hat der Klimawandel hier angerichtet?» Darunter wird der Borkenkäfer genannt, und was die Förster getan haben: «Geschädigte Bäume mussten entnommen werden.»

Gab es wirklich keine andere Möglichkeit? Teilnehmer einer Waldbegehung der Naturschutzinitiative (NI) mit Biologen der Universität Koblenz-Landau schütteln den Kopf über die Tafel von Landesforsten. «Es wäre sinnvoller gewesen, die vom Borkenkäfer geschädigten Fichten stehen zu lassen, sagen die Botaniker Dorothee Killmann und Eberhard Fischer. «Anstatt den Waldboden freizulegen und ihn so ungehindert der Sonneneinstrahlung auszusetzen, hätte man die Fläche der Natur überlassen sollen.»

In einem in dieser Woche veröffentlichten Gutachten für Greenpeace kommt Pierre Ibisch von der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (Brandenburg) zu dem Schluss: «Großkahlschläge - die regelmäßig zur Bekämpfung von Borkenkäfern umgesetzt werden - bewirken eine deutliche Erhöhung der Landschaftstemperaturen».

Bei einer Untersuchung zum Mikroklima auf der Montabaurer Höhe ermittelte Ibisch eine «Temperaturdifferenz zwischen lebenden Baumgruppen und Bereichen der Kahlfläche» von bis zu 17 Grad. Von den Folgen für Wasserhaushalt und Boden sind zahlreiche Pflanzen und Insekten betroffen.

Rheinland-Pfalz, das waldreichste Bundesland, bildet keine Ausnahme. Ibisch verweist auf massiv eingreifende Forstmaßnahmen in Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder auch Mecklenburg-Vorpommern. Zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben er, Fischer und Killmann einen Aufruf der Naturschutzinitiative mit dem Motto «Ökologische Waldwende - Jetzt!» unterzeichnet. «Wir haben uns zusammengesetzt, weil wir die gleichen Sorgen haben», sagt der NI-Vorsitzende Harry Neumann. «Wir haben kein Waldproblem, wir haben ein Forstwirtschaftsproblem.»

Ein Teil der Montabaurer Höhe hat den Schutzstatus eines Fauna-Flora-Habitats (FFH), nach einer Richtlinie der Europäischen Union. Allein im FFH-Gebiet Montabaurer Höhe wurden nach Angaben des für Landesforsten zuständigen Umweltministeriums in Mainz «rund 180.000 Fichten zur Eindämmung der klimabedingten Borkenkäfermassenvermehrung notgeerntet». Von eimem Kahlschlag könne aber keine Rede sein, sagt ein Sprecher des Ministeriums. «Die Entnahme der mit Borkenkäfern befallenen Bäume hatte das Ziel, die Nachbarwälder zu retten.»

«Der letzte Borkenkäfer stirbt in dem Moment, in dem keine Fichte mehr steht», sagt Ibisch. «Da wird seit zwei Jahren geschlagen, was das Zeug hält, auf Kosten der Böden und der Biodiversität.» Der Wissenschaftler ruft Forstverwaltungen und zuständige Ministerien auf: «Da muss sofort Einhalt geboten werden, da brauchen wir eine Vollbremsung.»

Zu den Besonderheiten des FFH-Gebiets zählen laut Steckbrief «artenreiche montane Borstgrasrasen». Der Koblenzer Botaniker Eberhard Fischer sucht am Rand eines Weges vergeblich nach der Zweinervigen Segge (Carex binervis), einer auf der Roten Liste von Rheinland-Pfalz als gefährdet aufgeführten Grasart, die er dort 1978 als Schüler bestimmt hatte.

«Dieser kleinflächige Borstgrasrasen ist bei Forstmaßnahmen völlig zerstört worden», stellt Fischer fest. «Das war's.» Der Verlust des einzigen rechtsrheinischen Vorkommens dieser atlantischen Art schmälere die Kenntnis von der Gesamtart: «Jetzt werden wir nie herausfinden, ob diese Segge genetisch eigenständig war.»

Die EU-Richtlinien für FFH-Gebiete erfordern eigentlich eine Verträglichkeitsprüfung, wenn die Möglichkeit besteht, dass bestimmte Maßnahmen die Schutzziele beeinträchtigen könnten. Bei den Notfallmaßnahmen nach Borkenkäferbefall habe die Zeit dafür nicht ausgereicht, erklärt der Ministeriumssprecher.

Rund 15 Kilometer südwestlich, im FFH-Gebiet Lahnhänge, beklagen die Wissenschaftler den Verlust eines Orchideen-Standorts. «Hier ist der Harvester, also ein Holzvollernter, durchgefahren», sagt Dorothee Killmann und zeigt auf zerwühlten Waldboden, auf dem im vergangenen Jahr noch die Breitblättrige Stendelwurz (Epipactis helleborine) geblüht habe. Landesforsten nehme diesen Hinweis ernst und sei «bestrebt, den Sachverhalt aufzuklären», heißt es dazu aus dem Ministerium.

Wenige Schritte entfernt steht eine rund 25 Meter hohe und etwa 180 Jahre alte Rotbuche mit einem roten Querstrich, der Forstmarkierung für zum Einschlag vorgesehene Bäume. Die Biologin Killmann schaut in die Baumkrone hoch und fragt empört: «Was soll das hier? Es kann doch nicht sein, dass dieser gesunde Baum gefällt werden muss!»

Aber die Planungen sehen das so vor. Im Buchenwald des FFH-Gebiets Lahnhänge entwickle sich seit etwa zwei Jahrzehnten die nächste Waldgeneration, heißt es im Umweltministerium. «Um den natürlichen Baumnachwuchs in seiner Entwicklung zu fördern, werden in regelmäßigen Zeitabständen einzelne alte Buchen geerntet.» Der fließende Generationenwechsel garantiere «einen stabilen Wald, indem Bäume verschiedenen Alters darin vorkommen».

Die Maßnahmen seien langfristig geplant und gerade auch vor dem Hintergrund der dramatischen Klimaentwicklung unbedingt notwendig. «Denn im Gegensatz zu den alten, zum Teil bereits geschädigten Bäumen, kann sich der Nachwuchs noch an die Veränderungen anpassen.»

Der Botaniker Fischer, der seit mehr als 30 Jahren die Ökologie im Bergregenwald von Ruanda erforscht, sieht jedoch gravierende Nachteile, wenn einzelne Bäume gefällt werden und so die geschlossene Kronendecke eines Buchenwalds gelichtet wird. «Dadurch geht die natürliche Dynamik des Buchenwalds verloren, obwohl dies doch der Schutzzweck sein sollte.»

Auf gelichteten Flächen des Buchenwalds sind immer wieder Bäume mit abgeplatzter Rinde zu sehen - ein klares Anzeichen für Sonnenbrand, wie Killmann beim Gang durch den Wald diagnostiziert. «Die Rotbuche ist kein Solitär, sie ist auf die Beschattung ihrer Nachbarbäume angewiesen.»

Die Wissenschaftler kritisieren zusammen mit Naturschützern, dass die Forstverwaltung in ihren Maßnahmen kaum einen Unterschied mache zwischen Wirtschaftswäldern und Wäldern in FFH-Gebieten. «Zur Einhaltung der Schutzziele brauchen wir neben Landesforsten weitere unabhängige Einrichtungen, Wissenschaftler und Vertreter von Naturschutzverbänden», fordern Tanja Alten und Marcel Hoffmann von der Bürgerinitiative Waldwende Jetzt. «Die Forstverwaltung beruft sich bei all ihren Maßnahmen auf die gute fachliche Praxis, die aber nirgendwo definiert und auch nicht überprüft wird.»
dpa/lrs
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Kommentare 
Botanikus schrieb am 05.12.2021 12:59 Uhrzustimmen(2) widersprechen(3)
Die Stendelwurz ist anders als im Artikel dargestellt, keine seltene Orchideenart, sondern eine derjenigen Arten, die sich in den letzten Jahrzehnten stark ausgebreitet hat. Sie kommt an zahlreichen Wegrändern und insbesondere auch in der Nähe von Dörfern und Städten vor.
Falls sie am beschriebenen Standort in den Vorjahren Samen gebildet hat, wird sie wiederkommen, oder sich durch Samenflug wiederansiedeln.
Gerade Lichtungen und Kahlschläge zeigen in den ersten Jahren zahlreiche Wildstauden, die es im halbschattigen Wald nicht gibt.
Sa-L schrieb am 30.11.2021 14:16 Uhrzustimmen(3) widersprechen(1)
Die breitblättrige Stendelwurz ist eine sehr häufige Orchideenart.
Verbreitungskarten auf www.floraweb.de
Sie ist keine rote Liste Art.
Hier bei uns im südlichen Sauerland habe ich sie in diesem Jahr, nachdem Borkenkäferflächen eingeschlagen und abgefahren wurden, an zwei Standorten neu angetroffen, da es dort jetzt andere Licht- und Temperaturverhältnisse gibt. Sie war ein Profiteur der Maßnahmen.

Es ist richtig, dass sich Temperaturen auf Kahlflächen erhöhen aber die Alternative jahrelang faule Borkenkäfer-Dürrständer langsam abbrechen zu lassen, mit Gefahren für Waldbesucher und ohne die Chance, in diesen Flächen waldbaulich zu arbeiten, möchte ich nicht eingehen. Zudem wird die Fläche innerhalb kurzer Zeit auch durch bodennahe Vegetation bedeckt. Naturverjüngung haben wir hier schon im Jahr 2021 des Einschlages durch Vogelbeeren, Faulbaum, Birken und Ilex sehen können.

Die Katastrophenszenarien der beschriebenen Wissenschaftler sind unredlich.
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