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12.02.2023 | 17:35 | Nachhaltiger Pflanzenschutz 

Brüsseler Pflanzenschutzpläne weder praxistauglich noch verhältnismäßig

Berlin - Der Brüsseler Verordnungsentwurf für eine nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln stößt in Deutschland weiterhin auf Ablehnung.

Pflanzenschutzmitteleinsatz
Experten überwiegend kritisch gegenüber EU-Verordnungsentwurf - Krüsken nennt Vorlage eindimensional - Gemmer vermisst wissenschaftliche Basis - von Tiedemann: Einschränkung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes „wissenschaftlich nicht begründbar“ - Union sieht Kritik bestätigt - SPD fordert Nachbesserungen. (c) proplanta
In einer öffentlichen Anhörung, die der Bundestagsernährungsausschuss diese Woche durchgeführt hat, äußerten sich die geladenen Sachverständigen überwiegend kritisch zu der Vorlage der EU.

Der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Bernhard Krüsken, nannte die Pläne der Europäischen Kommission „weder praxistauglich noch verhältnismäßig“. Sie entzögen mit großflächigen, pauschalen Einsatzverboten dem Vertragsnaturschutz die Grundlage und stellten einen eklatanten Vertrauensbruch gegenüber den Landwirten in den betroffen Gebieten dar. Gleichzeitig bleibe das Ziel der Ernährungssicherung in der eindimensionalen Ausrichtung vollkommen außer Acht.

Der Hauptgeschäftsführer vom Industrieverband Agrar (IVA), Frank Gemmer, bemängelte eine „fehlende wissenschaftliche Basis der Reduktionsziele für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln“. „Innovationen statt Verbote“ sei der Schlüssel für die Erreichung der Umweltziele. Für den Göttinger Agrarwissenschaftler Prof. Andreas von Tiedemann ist eine weitere Einschränkung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes „wissenschaftlich nicht begründbar.“

Die Union sieht sich in ihrer Kritik am Brüsseler Entwurf bestätigt. „Der Vorschlag der EU zur pauschalen Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln ist grundsätzlich fehlerhaft, unwissenschaftlich und nicht praxistauglich“, erklärte der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Albert Stegemann, im Nachgang zur Anhörung. Auch die SPD sieht Nachbesserungsbedarf, fordert aber eine differenzierte Herangehensweise.

Falsche Stellschraube



Die Regulierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes ist von Tiedemann zufolge „die falsche Stellschraube“ zur Sicherung der Biodiversität. „Pflanzenschutzmittel beeinträchtigen zwar die Individuenzahl einer Schadorganismenpopulation, gefährden aber nicht die Existenz einer Art“, sagte der Leiter der Abteilung für Pflanzenpathologie und -schutz am Department für Nutzpflanzenwissenschaften in Göttingen. Seinen Angaben zufolge ist ein unmittelbar durch Pflanzenschutzmitteleinsatz verursachter Artenverlust auf Behandlungsflächen nicht belegt; auf Nichtzielflächen sei er auszuschließen. Wirkungsvoller für den Biodiversitätsschutz sei stattdessen die Sicherung von Lebensräumen in der Agrarlandschaft.

Der Phytomediziner plädierte für die Entwicklung alternativer Pflanzenschutzverfahren, warnte aber vor Euphorie. Dies gelte insbesondere für biologische Pflanzenschutzmittel und die Robotik. Deutlich interessanter seien die aktuellen Entwicklungen in der Biotechnologie. Von Tiedemann bezeichnete die neuen Züchtungsmethoden als wichtiges Innovationsfeld, das seiner Auffassung nach nicht länger durch eine unklare Rechtslage blockiert werden dürfe.

Gleichzeitig dürfe auch hier nicht außer Acht bleiben, dass es selbst nach einer Beseitigung rechtlicher Hürden in der EU noch Jahre dauern würde, bis Züchtungsergebnisse vorliegen. Zudem könnten auf diese Weise gezüchtete Sorten zwar den Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel reduzieren, ihn jedoch keinesfalls ersetzen.

Einfluss auf Biodiversität unstrittig



Der Leiter der Abteilung Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle, Prof. Josef Settele, nannte den teilweise dramatischen Artenverlust wissenschaftlich unstrittig und bestritt die Aussage von Tiedemanns, dass der chemische Pflanzenschutz dabei keine Rolle spiele. In welchem Ausmaß dies erfolge, müsse im Einzelfall untersucht werden. Settele räumte aber ein, dass es beim Pflanzenschutz nicht darum gehe, Arten auszurotten. Dass er aber einen Faktor für den Verlust von Biodiversität darstelle, ist laut dem Biologen unstrittig.

Nach Angaben der Leiterin des Bereichs Landnutzung und Governance am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg, Prof. Sonoko Dorothea Bellingrath-Kimura, ist das Potential für eine Reduktion des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln in der deutschen Landwirtschaft bisher nicht systematisch und umfänglich untersucht worden. Sie betonte, dass eine Reduktion der Applikationsmengen im chemischen Pflanzenschutz vor allem über Anreize und eine fachliche Unterstützung für Landwirte erreicht werden könne.

Zielsetzung ist „ambitioniert“



Der Leiter des Instituts für Anwendungstechnik im Pflanzenschutz am Julius-Kühn-Institut (JKI), Prof. Jens Karl Wegener, warnte vor überzogenen Erwartungen an einen breiten Einsatz etwa von Sensortechnik in der praktischen Landwirtschaft. Insbesondere für kleinere und mittlere Betriebe seien die damit verbundenen Investitionskosten in der Regel nicht darstellbar, gab der Wissenschaftler zu bedenken.

Technische Neuerungen wie das Spot-Spraying auf Feldern und der Ausbau der Digitalisierung bei Betriebsprozessen erwartet Wegener dafür vornehmlich in Großbetrieben. Eine Halbierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes in den nächsten sieben Jahren sei auch deshalb „ambitioniert“, weil der Ausbau der Infrastruktur für mehr Digitalisierung oftmals an Planungen und termingerechter Fertigstellung scheitere.

Dem Leiter der Abteilung Sicherheit von Pestiziden beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Dr. Tewes Tralau, zufolge ist ein Verzicht auf chemischen Pflanzenschutz allein aus Gründen des Gesundheitsschutzes auf absehbare Zeit nicht möglich. Chemische Pflanzenschutzmittel seien zum Schutz vor Toxinen, etwa im Getreide sowie zum Vorratsschutz, unerlässlich.

Komplexes Thema



Die SPD verwies im Nachgang der Anhörung auf den Nachbesserungsbedarf am Brüsseler Verordnungsentwurf. In einer gemeinsamen Stellungnahme mahnten die Bundestagsabgeordneten Dr. Franziska Kersten, Sylvia Lehmann und Isabel Mackensen-Geis Korrekturen im Hinblick auf pauschale Einsatzverbote in Schutzgebieten sowie die Auswirkungen auf den Anbau von Sonderkulturen an. Eine weitere Reduktion des Einsatzes chemischer Pflanzenschutzmittel sei möglich, müsse aber bürokratiearm gestaltet werden, betonten die SPD-Politikerinnen.

Keinesfalls dürften die Maßnahmen dazu führen, dass kleinere Betriebe aus der Produktion gedrängt werden. Großes Potential bescheinigen Kersten, Lehmann und Mackensen-Geis hochpräzisen Ausbringungstechniken und der Digitalisierung. Voraussetzung sei allerdings eine bessere Datenverfügbarkeit durch mehr Schnittstellen bei den Datenbanken von Bund und Ländern.

Insgesamt wollen die Sozialdemokratinnen den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln so gestalten, dass negative Auswirkungen auf die Umwelt vermieden werden. Gleichzeitig müsse aber gewährleistet sein, dass die Ernährungssicherheit nicht gefährdet und Gesundheitsrisiken für den Menschen, etwa durch Pilzbefall von Getreide, ausgeschlossen seien. Wichtig sei dabei  eine differenzierte Betrachtung des komplexen Themas.

Nicht länger wegducken



Würden die von der EU-Kommission vorgesehenen Regelungen so umgesetzt, käme es den Experten zufolge zu geringeren Ernten und Qualitätseinbußen, fasste CDU/CSU-Agrarsprecher Stegemann seinen Eindruck von der Anhörung zusammen.

Im Ergebnis würden dem CDU-Politiker zufolge die Importabhängigkeit der EU bei Nahrungsmitteln steigen und die Welternährung gefährdet. Stegemann rief Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir dazu auf, sich nicht länger wegzuducken. Stattdessen müsse sich der Minister in Brüssel für eine umfassende Folgenabschätzung und Korrekturen an der Vorlage einsetzen.

Kein weiteres Bürokratieungeheuer



Unionsberichterstatter Artur Auerhammer sprach von einem ideologiegeleiteten Vorschlag der EU-Kommission, der zur Unzeit gekommen sei. Notwendig seien „praxistaugliche Ansätze, jedoch kein weiteres Bürokratieungeheuer.“ Ein Antrag der CDU/CSU bildete den Anlass für die Anhörung. Darin fordern die Parlamentarier, dass die „Erreichung umweltpolitischer Ziele in der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Sicherstellung der ernährungspolitischen Souveränität in der Europäischen Union maßvoll und praxistauglich“ sein müsse.

Bei Vorschriften zur Verringerung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln müssten die Bedarfsgerechtigkeit und die Effizienz im Vordergrund stehen und nicht die pauschale Reduktion. Der Ausschuss wird nun eine Position zu der Brüsseler Vorlage erarbeiten. Es ist zu erwarten, dass der Unionsantrag mit der Mehrheit der Stimmen der Ampelfraktionen abgelehnt wird.

Gartenbauverband fordert Regelungen mit Augenmaß



Unterdessen bekräftigte der Zentralverband Gartenbau (ZVG) seine Kritik an den europäischen Vorschlägen zum nachhaltigen Pflanzenschutz. Die Vorgaben des Brüsseler Verordnungsentwurfs seien „unrealistisch und für die Betriebe nicht zumutbar“, erklärte ZVG-Generalsekretär Bertram Fleischer im Vorfeld der Anhörung.

Nicht ansatzweise würden die bislang erreichten Reduktionsfortschritte bei den Mengen und dem Risiko der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln im deutschen Gartenbau sowie die vorbildliche Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie 2009/128 in Deutschland berücksichtigt. „Verbote und ein alleiniger Fokus auf biologische und low-risk-Produkte werden die enormen Lücken bei den Bekämpfungsmöglichkeiten bei weitem nicht schließen können“, warnte Fleischer.

Nachhaltiger Pflanzenschutz umfasse den gesamten Instrumentenkasten des Integrierten Pflanzenschutzes, der gestärkt werden müsse. In den anstehenden Verhandlungen müsse es darum gehen, einen „nachhaltigen Pflanzenschutz mit Augenmaß und Blick für eine wirtschaftliche gartenbauliche Produktion von Obst, Gemüse, Gehölzen und Pflanzen“ zu sichern.

Kaum Alternativen zum chemischen Pflanzenschutz



Gegen Wunschdenken in der Pflanzenschutzpolitik wandte sich „Der Agrarhandel“ (DAH). „Der Landwirtschaft stehen derzeit keine wirksamen alternativen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um beispielweise das Auftreten von Pflanzen- oder Pilztoxinen in Agrarprodukten zu verhindern“, erklärte der Verband anlässlich der Anhörung. Laut DAH liegt der Anteil biologischer Maßnahmen als Alternative zum insgesamt benötigten Pflanzenschutz derzeit lediglich bei 1 %.

Der Verband bekräftigte seine Forderung, der Landwirtschaft Zugang zu Innovationen beispielsweise in der Züchtung, aber auch zu Monitoringsystemen zu ermöglichen. „Eine pauschale Reduzierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmittel heißt aktuell eben auch, dass die Erträge sinken werden, die Preise für Agrarprodukte steigen und die Versorgung mit Lebens- und Futtermitteln gefährdet wird“, so DAH-Geschäftsführer Martin Courbier.

Qualitätsstandards einhalten



Angesichts der angespannten globalen Versorgungssituation mit Lebens- und Futtermitteln müssten die Maßnahmen politischer Ziele klug abgewogen werden, damit die verfügbaren landwirtschaftlichen Flächen weiterhin effizient genutzt werden und Nahrungsmittel bezahlbar bleiben, forderte Courbier.

Grundsätzlich müsse sich die geplante Reduktion von Pflanzenschutzmitteln an der Verfügbarkeit wirksamer Alternativen orientieren. Darüber hinaus sei es zwingend erforderlich, dass Qualitätsstandards der Nahrungsmittel eingehalten werden.

Zwar seien die politischen Ziele der EU-Kommission grundsätzlich zu begrüßen, chemische Pflanzenschutzmittel zu reduzieren und die Diversität von Pflanzen und Tieren EU-weit zu erhöhen, betonte der Geschäftsführer. Die dazu vorgesehenen Maßnahmen dürften jedoch nicht dazu führen, dass die Versorgungssicherheit gefährdet werde.
AgE
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