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06.11.2016 | 07:01 | Milchproduktion 
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Auslaufmodell Kuhstall - Immer mehr Milchbetriebe geben auf

Cramonshagen - Milchkuh Nummer «6259» steht verloren im Stroh. Mit nur noch wenigen Artgenossen teilt sie sich den weitläufigen Stall von Böken bei Cramonshagen.

Milchproduktion
Der Milchpreis steigt wieder leicht, doch für viele Agrarbetriebe zu spät. Bundesweit geben Bauern die Milchproduktion auf und verkaufen ihr Vieh. Auch in einem Dorf bei Schwerin, in dem seit Jahrhunderten Kühe weiden, wird bald nicht mehr gemolken. (c) proplanta
Hier haben die verbliebenen Schwarzbunten der Landwirtschaftlichen Erzeugergemeinschaft des Dorfes bei Schwerin viel Platz zum Liegen, Fressen, Wiederkäuen.

An den Massagebürsten, die den Hochleistungskühen Entspannung verschaffen, muss keine mehr anstehen. Noch wird im Betrieb zweimal täglich gemolken, doch bald sind auch die letzten Tiere verkauft. Wegen zu geringer Erlöse ist die Milchproduktion in der 300-Seelen-Gemeinde zum Auslaufmodell geworden.

«Seit Menschengedenken gab's hier Kühe», sagt Bürgermeister Reinhard Eggemann. «Ich sehe es nicht als Fortschritt, wenn die jetzt abgeschafft werden.» Wie viele Höfe bundesweit gibt die Genossenschaft die unrentable Milchviehhaltung auf, wie Vorstandsvorsitzender David Kureck sagt.

Die letzten der einst 400 Kühe werden Mitte November abtransportiert, die alten Ställe danach abgerissen. Wegen der fehlenden Gülle als «Futter» für die ohnehin sanierungsbedürftige Biogasanlage solle auch die hofeigene Stromproduktion bis Jahresende eingestellt werden. Sieben von 14 Beschäftigten verlieren ihren Job.

Unter denen, die arbeitslos werden, ist Ines Koloska. Sie nehme sich die Kuh mit der Ohrmarken-Nummer «6259» mit nach Hause, sagt die 41-jährige Agrarbetriebswirtschaftlerin. «Wir müssen uns den Respekt vor den Tieren bewahren», meint sie. «Es ist so unfair, wenn gesunde alte Kühe zum Schlachter müssen.»

Maik Klein, Melker, sieht einem abfahrenden Kuh-Transporter hinterher. «So was hab ich noch nicht erlebt», ringt der 44-Jährige sichtlich um Fassung. Herdenmanager Xander van Diggele sagt: «Die Zukunft der Milchwirtschaft überhaupt ist ungewiss, das ist echt frustrierend.»

In der seit mehr als zwei Jahren anhaltenden Milchmarktkrise stellten in Deutschland laut Bundesagrarministerium rund 5.000 Betriebe die Milchproduktion ein. Knapp 2.000 Höfe davon gaben zwischen November 2015 und Mai 2016 auf, die Zahl der Milchviehbetriebe sank auf 71.300. Allerdings blieb die Zahl der Kühe fast konstant bei rund 4,3 Millionen Stück Vieh. Der Grund ist eine Konzentration der Milchproduktion auf weniger Standorte.

«Im Zuge des Auslaufens der Milchquote und angesichts der damaligen guten internationalen Absatzlage sind außergewöhnlich viele Kuhställe gebaut oder erweitert worden», erläutert Carsten Reymann, Sprecher im Bundesagrarministerium. Milcherzeuger, die ihre Stallkapazitäten derzeit noch nicht vollständig besetzt haben, würden Kühe von aufgebenden Betrieben aufnehmen. Damit bleibe vorerst das Rohmilchangebot insgesamt gleich, erklärte er.

Auch die Kühe von Cramonshagen gehen nicht alle zum Schlachter. Zwei Drittel, die Besten, verkaufe die Genossenschaft an Erzeuger in Norddeutschland, sagt Kureck. In moderneren Anlagen, in denen mehr Komfort herrsche und öfter gemolken werde, könnten seine verkauften Tiere dann noch mehr Milch geben als bisher, vermutet der 36-jährige Landwirt. «Am Ende wird nicht weniger produziert.» So seien die Milchbauern, die auf immer mehr Wachstum setzten, auch selbst mit Schuld an der Krise, sagt er.

Die Zukunft seines Betriebes sieht Kureck nicht mehr in der Viehwirtschaft, sondern im Ackerbau. «Wir sollten wieder mehr mit der Natur arbeiten, nicht gegen sie.» Er wolle jetzt umstrukturieren und auf den gut 1.100 Hektar neben Raps, Weizen, Gerste auch Leguminosen anbauen, eiweißreiche Hülsenfrüchte wie Erbsen, Bohnen und Lupinen.

Der Abschied von den Kühen tue weh, sei aber unausweichlich, sagt der Betriebschef. Zumal noch kürzlich die Entscheidung anstand, Stallungen und Melkanlage für Millionen-Investitionen zu modernisieren oder neu zu bauen.

In den über 40 Jahre alten Gebäuden war kein wirtschaftliches Arbeiten mehr möglich. Doch selbst in Mecklenburg wird der Bau neuer Viehbetriebe von Anwohnern nicht gern gesehen, es gibt allerorten Proteste gegen landwirtschaftliche Großprojekte. Das Risiko war einfach zu groß, wie Kureck betont. «Milchproduktion ist ein Massenmarkt. Das Spiel heißt Wachsen oder Weichen.»

Damit steht auch Milchkuh Nummer «6259» auf ihre alten Tage noch ein Umzug bevor. Für sie geht es in den rund 80 Kilometer entfernten Obstgarten von Landwirtin Koloska. «Wir haben schon öfter Rinder zu Hause aufgenommen, auch der Bulle Kai-Uwe bekam hier sein Gnadenbrot.» Die «pensionierte» Kuh solle nun Familie und Nachbarn täglich mit frischer Milch versorgen.
dpa
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Kommentare 
cource schrieb am 06.11.2016 10:50 Uhrzustimmen(72) widersprechen(52)
die wohlbehüteten ossis konnten es sich nicht vorstellen wie brutal der kapitalismus ist und jetzt erfahren sie es am eigenen leib und wer weiß, was da noch alles so den bach runter geht
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