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26.06.2022 | 10:16 | Getreidekorridor 

Gibt es eine dauerhafte Getreide-Alternativroute aus der Ukraine?

Berlin/Rom - Die Bundesregierung macht sich für eine dauerhafte Alternativroute für Getreidelieferungen aus der Ukraine stark.

Getreidekorridor
Özdemir: Getreideexport aus der Ukraine muss „signifikant“ erhöht werden - Baerbock setzt auf Lieferung über Rumänien. (c) proplanta
Das haben Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am Freitag (24.6.) im Vorfeld einer kurzfristig angesetzten Konferenz zur globalen Ernährungssicherheit erklärt, zu der 50 Delegationen nach Berlin gekommen sind.

Özdemir zufolge sind die ukrainischen Getreideausfuhren von rund 5 Mio. t pro Monat in Friedenszeiten auf 350.000 t zu Kriegsbeginn eingebrochen. Durch einen „internationalen Kraftakt“ sei es gelungen, im Mai 1,7 Mio. t Getreide aus der Ukraine über Alternativwege an den Weltmarkt zu bringen.

Ziel müsse es jetzt sein, die Exportmengen noch signifikant zu erhöhen, betonte Özdemir und stellte klar: „Wir müssen uns mit dauerhaften Alternativrouten beschäftigen, damit die Ukraine auch im Fall eines hoffentlich stattfindenden Kriegsendes nicht erpressbar ist.“ Dazu seien die Europäische Kommission, die transatlantischen Partner und die EU-Mitgliedstaaten gefordert, eine Strategie vorzulegen, wie eine permanente Alternativroute aussehen könnte, erklärte Özdemir.

Er sicherte dabei Deutschlands Unterstützung zu. Zudem sei es entscheidend, was die ukrainischen Landwirte im nächsten Anbaujahr aussäten. Der Bundeslandwirtschaftsminister erhofft sich hier ein „kraftvolles Signal“ von den G7-Staaten. Die Konferenz versteht sich laut Agrarressort als Beitrag zur Vorbereitung des anstehenden G7-Gipfels in Elmau.

Russisches Getreide nicht von Sanktionen betroffen

Baerbock äußerte die Hoffnung, dass ab Juli täglich über die Bahnstrecke über Rumänien ukrainisches Getreide geliefert werden könne. Im Hinblick auf die Konferenz benannte sie vier Ziele. Neben eines Zusammenschlusses für alternative Wege gehören dazu nach Angaben der Ministerin die Aufstockung der Nothilfe für akute Hungerhilfen sowie die nachhaltige Verbesserung von Produktion und Verbrauch von Nahrungsmitteln.

Außerdem müssten die indirekten Effekte aus diesem „sich aufbauenden Tsunami“ angepackt werden. Deutschland ist laut Baerbock mit 2,8 Mrd. Euro der zweitgrößte Geldgeber bei der Bekämpfung der Hungerkrise. Insgesamt würden 44 Mrd. Euro benötigt. Zugleich stellte die Bundesaußenministerin klar, dass es keine Sanktionen gegen russisches Getreide gebe und geben werde. Im Mai habe Russland genauso viel Getreide ausgeführt wie im Vorjahresmonat. Russlands Narrativ, die G7 seien schuld, ziehe nicht, so die Grünen-Politikerin.

Vor größter Hungerkatastrophe seit 1945?

Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze befürchtet die größte Hungerkatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg, wenn nicht gegengesteuert werde. Die Abhängigkeit von Russlands Getreide müsse reduziert werden, erklärte die SPD-Politikerin.

Dazu müssten die von Hunger betroffenen Länder insgesamt krisenfester gemacht werden und selbst wieder mehr Getreide anbauen. Die Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gabriela Heinrich, bezeichnete den Angriffskrieg von Wladimir Putin als „Angriff auf die Welternährung“. Die „perfide Blockade“ Russlands von Agrarexporten aus der Ukraine müsse endlich beendet werden.

„Putin betreibt eine verabscheuungswürdige Geiselnahme hungernder Menschen des globalen Südens. Die Weltgemeinschaft muss und wird alles dafür tun, die Welternährung zu sichern“, betonte Heinrich. Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Carina Konrad schätzt es als richtig ein, dass die Industriestaaten nun alles dafür tun, Getreidelieferungen aus dem Kriegsgebiet möglich zu machen.

„Unsere Pflicht“ liege nun in erster Linie darin, die Länder beim Aufbau eigener Produktionskapazitäten zu unterstützen. Chancen sieht die FDP-Politikerin dabei auch in den neuen Züchtungsmethoden. „Eine kategorische Ablehnung der grünen Biotechnologie ist moralisch nicht mehr haltbar“, stellte die Liberale in Richtung grüner Koalitionspartner fest. Das Umwelt- und das Landwirtschaftsministerium müssten sich für eine Änderung des EU-Gentechnikrechts stark machen.

„Nicht das maximal Mögliche“

CDU und CSU sehen indes Anspruch und Realität bei der Bundesregierung in Sachen Ernährungssicherung weit auseinanderklaffen. So müsste sich Landwirtschaftsminister Özdemir eigentlich vehement gegen die ab 2023 in der EU-Agrarpolitik verlangten Flächenstilllegungen einsetzen. Das tue er aber nicht, so die Unionsfraktion.

Und Umweltministerin Lemke sollte das neue EU-Naturschutzpaket eigentlich kritisch sehen, denn es laufe im Resultat ebenfalls auf weniger landwirtschaftliche Produktion hinaus. Das tue sie aber auch nicht. An den grünen Ministern scheiterten auch die vertiefte Erforschung und Anwendung von innovativen Technologien, die Pflanzen beispielsweise resistenter gegen Hitze und Trockenheit machen könnten, beklagte die Unionsfraktion.

Im Ergebnis leisteten Deutschland und Europa „nicht das maximal Mögliche im Kampf gegen den Hunger in der Welt“. Der Agrarsprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Stephan Protschka, forderte Özdemir auf, zuerst die heimische Landwirtschaft zu unterstützen, „anstatt ständig auf andere Länder zu schauen“. Diese habe der Minister bislang „sträflich im Stich gelassen“. Protschka verwies auf die gestiegenen Produktionskosten. Diese seien so hoch, dass sich die Bewirtschaftung kaum noch lohne und die meisten Bauern trotz höherer Erzeugerpreise draufzahlen müssten. Das zwinge immer mehr Betriebe zur Hofaufgabe.

Wichtiges Signal der Geschlossenheit

Der World Wide Fund For Nature (WWF) Deutschland wertete die Konferenz als ein „wichtiges Signal“, um die Geschlossenheit der Weltgemeinschaft zu zeigen. Kurzfristig müssten die Agrarmärkte weitestgehend offengehalten und Maßnahmen getroffen werden, die unmittelbar auf die Hungerkrise reagierten. „Ernährung darf nicht länger geopolitische Waffe sein“, forderte der WWF Deutschland.

Greenpeace-Landwirtschaftsreferent Matthias Lambrecht erklärte, dass die Bundesregierung jetzt ihre Verantwortung in der Hungerkrise wahrnehmen und die Beimischung von Biosprit zu fossilen Kraftstoffen umgehend stoppen müsse. „Deutschland sollte ein Signal im Kreis der G7-Staaten und der EU senden, das die überhitzten Märkte beruhigen könnte und dem sich andere Länder anschließen könnten“, so Lambrecht.

Auch künftige Hungerkrisen bewältigen

Bereits zu Wochenbeginn hatte Schulze dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) Deutschlands Unterstützung bei der Bewältigung der akuten Hungerkrise zugesagt. Zugleich mahnte das WFP angesichts der drohenden globalen Ernährungskrise größere Anstrengungen an, um die globalen Ernährungssysteme krisenfester und zukunftssicher zu machen. „Es geht nicht nur darum, diese Hungerkrise zu bewältigen, sondern zugleich darum die nächste zu verhindern“, sagte Schulze am Montag (20.6.) in Rom.

Gesellschaften müssten langfristig unabhängiger von Lebensmittelimporten und schwankenden Weltmarktpreisen gemacht werden. Das gelinge, indem die lokale Produktion gestärkt werde durch mehr klimaangepassten, vielfältigen Anbau, regionalen Handel und Lagerkapazitäten. Schulze gab in Rom bekannt, dass ihr Ressort in diesem Jahr den Kernbeitrag für das WFP von 28 Mio Euro auf 70 Mio Euro erhöhen werde.

Kleinbäuerliche Landwirtschaft als Ziel

Der Direktor des WFP Global Office, Dr. Martin Frick, mahnte anlässlich der Jahressitzung des WFP-Exekutivrates in Rom, die auch der Vorbereitung der Konferenz in Berlin diente, die Abhängigkeiten von günstigen Importen aufzubrechen, die vielen Ländern gerade zum Verhängnis würden. Ziel müsse eine kleinbäuerliche regionale Landwirtschaft sein, die die Ernährung ganzer Regionen sichern könne, so dass die nächste Dürre oder Flut nicht alles wieder zunichtemache.

Das WFP Global Office bezeichnete Deutschland als „wichtigsten Partner“. „Dass die strukturelle Ernährungssicherheit dank Deutschland innerhalb der G7 auf der Agenda ganz oben steht, ist in dieser Krise ein wichtiges Signal an die armen Staaten des globalen Südens. Deutschland ist hier Vorreiter und wir begrüßen das Engagement“, hob Frick hervor.
AgE
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