Vorsprung durch Wissen
schließen x
Suchbegriff
Rubrik
 Suchen
Das Informationszentrum für die Landwirtschaft
04.12.2016 | 07:04 | Atompolitik 

Urteil über Atom-Klagen erwartet

Karlsruhe - Es geht um enttäuschtes Vertrauen, geheime Verhandlungen und Milliardenforderungen an den deutschen Fiskus.

Atomenergie in Deutschland
Der Ausstieg aus der Atomkraft birgt für die Steuerzahler jetzt schon Milliarden-Risiken. Nun entscheidet sich, ob Stromkonzerne womöglich auch noch auf Schadenersatz pochen können. Aber im Geschacher um Kosten und Haftung ist Karlsruhe nicht der einzige Schauplatz. (c) proplanta
Knapp sechs Jahre nach dem Schock von Fukushima urteilt das Bundesverfassungsgericht am Dienstag (6. Dezember) über die Kehrtwende in der deutschen Atompolitik.

Worum geht es?

Im März 2011 erschüttert die Reaktorkatastrophe in Japan Menschen rund um den Erdball. Wenige Monate zuvor haben Union und FDP den rot-grünen Atomausstieg bis mindestens 2036 gestreckt. Mit einem Schlag ist das kaum noch vermittelbar.

Kurz vor wichtigen Wahlen reißt die Bundesregierung das Ruder herum: Sieben ältere Blöcke und das als «Pannenmeiler» verschrieene AKW Krümmel müssen per Moratorium für drei Monate vom Netz. Eine Änderung des Atomgesetzes zum 31. Juli 2011 besiegelt dann ihr Aus. Die Betriebsgenehmigungen der übrigen neun Kraftwerke erlöschen binnen elf Jahren in festen Fristen. Damit ist der beschleunigte Atomausstieg bis 2022 beschlossene Sache.

Mit welchen Folgen?

Heute gibt es bundesweit nur noch acht aktive Meiler. Von ihnen müssen die nächsten 2017 und 2019 vom Netz. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der großen deutschen Versorger wegen der Energiewende hat das noch verschärft. Stellvertretend forderte Eon-Chef Johannes Teyssen öffentlich «Gerechtigkeit» - und zwar finanzieller Natur: Die Bundesregierung solle die Betreiber für ihre Einbußen entschädigen. Die Schadenersatz-Forderungen beschäftigen bis heute die Gerichte.

Zahlen sich die juristischen Auseinandersetzungen aus?

Bisher eher nicht. In einer ersten Prozesswelle geht es um das Moratorium von 2011. Hoffnungen geweckt hatte der hessische Verwaltungsgerichtshof mit einer vom Bundesverwaltungsgericht bestätigten Entscheidung: Er erklärte Anfang 2013 die sofortige Zwangsstilllegung der beiden RWE-Kraftwerksblöcke in Biblis für rechtswidrig - unter anderem, weil das Unternehmen vorher nicht ordnungsgemäß angehört wurde. Darauf stützen sich alle Klagen.

Die RWE-Forderungen von 235 Millionen Euro hat das Landgericht Essen inzwischen allerdings deutlich nach unten korrigiert. EnBW ging im Februar in Bonn leer aus, Eon im Juli in Hannover. Das mit Abstand wichtigste Verfahren ist aber das vor dem Bundesverfassungsgericht.

Was entscheidet sich dort?

Eon, RWE und Vattenfall wollen in Karlsruhe feststellen lassen, dass sie durch die plötzliche Kehrtwende in der Atompolitik enteignet wurden und ihnen dafür Entschädigung zusteht. Ein solches Urteil wäre die Grundlage, um Schadenersatz einzufordern für sämtliche damit verbundenen Einbußen. Wie viel Geld die Konzerne insgesamt wollen, wurde nie offen gesagt. Nach allem, was man weiß, dürfte es aber um rund 19 Milliarden Euro gehen. Der vierte große Versorger EnBW klagt nicht mit, weil er fast vollständig in öffentlicher Hand ist.

Wie könnte die Entscheidung ausfallen?

Erwartet wird ein sehr umfangreiches und komplexes Urteil. Scheitern die Energieriesen nicht auf ganzer Linie, wird es sehr darauf ankommen, wie der Erste Senat unter Vizegerichtspräsident Ferdinand Kirchhof die Vorgänge im Detail bewertet. Es geht um eine Reihe von Einzelpunkten - und es ist gut möglich, dass die Richter an der einen Stelle Grundrechte verletzt sehen und an anderer nicht. Von der Frage, wie gravierend der staatliche Eingriff ist, hingen dann wiederum die Chancen auf eine Entschädigung ab.

Welche Fragen spielen dabei eine Rolle?

Es fängt schon damit an, ob vorgezogene Abschalttermine und gekürzte Reststrommengen eine Enteignung sein können. Die Anlagen gehören ja weiter den Betreibern, verlieren ohne Genehmigung aber ihren Wert. Die Konzerne sagen, sie hätten im Vertrauen in die schwarz-gelbe Politik noch einmal investiert - klar ist aber auch, dass sie den «Atomkonsens» unter Rot-Grün selbst mitgetragen hatten. Im Raum steht zudem der Vorwurf, dass Meiler wie Krümmel ungleich behandelt wurden.

Für Vattenfall ist ungeklärt, ob sich ein schwedischer Staatskonzern überhaupt auf deutsche Grundrechte berufen kann. Das Unternehmen versucht derzeit parallel, vor einem Schiedsgericht in Washington 4,7 Milliarden Euro Entschädigung von der Bundesregierung zu erstreiten.

Welche Auswirkungen könnte das Karlsruher Urteil haben?

Eine Prognose wird noch dadurch erschwert, dass Bundesregierung und Konzerne in Berlin an einem Milliardenpakt zur Entsorgung der atomaren Altlasten feilen. Vorgesehen ist, dass der Staat den Versorgern die Verantwortung für die Atommüll-Endlagerung abnimmt und diese sich um Stilllegung und Abriss kümmern. Sie müssten mehr als 23 Milliarden Euro an einen Staatsfonds überweisen, wären damit aber frei von einer Haftung bis in alle Ewigkeit.

Im Gegenzug sollten die Konzerne eigentlich alle Klagen fallenlassen. Im Detail ist der Deal noch nicht verhandelt. Ob am Ende auf Schadenersatz gepocht wird, dürfte sich also in Berlin entscheiden. Ein Erfolg in Karlsruhe würde die Verhandlungsposition der Unternehmen aber in jedem Fall stärken.
dpa
Kommentieren
weitere Artikel

Status:
Name / Pseudonym:
Kommentar:
Bitte Sicherheitsabfrage lösen:


  Weitere Artikel zum Thema

 Neuartige Atomreaktoren auf Jahrzehnte nicht marktreif nutzbar

 Kernkraft-Gipfel: Staaten planen schnelleren Ausbau von Atomenergie

 Staaten kündigen beschleunigten Ausbau von Atomkraft an

 Verhandlung um Millionen-Anlagebetrug mit Atomausstieg

 Scholz spricht sich gegen neue Atomkraftwerke aus

  Kommentierte Artikel

 Ukrainisches Getreide macht EU-Märkte nicht kaputt

 Jedes vierte Ei in Deutschland aus Rheinland-Pfalz

 Hundesteuer steigt - Rekordeinnahmen bei Kommunen

 Neuartige Atomreaktoren auf Jahrzehnte nicht marktreif nutzbar

 Milliardenschweres Wachstumspaket kommt, aber ohne Agrardiesel-Subventionen

 Wieder Bauernproteste in Berlin

 Cholera-Alarm: Impfstoffproduktion muss hochgefahren werden

 Deutsche Wasserspeicher noch immer unterhalb des Mittels

 Staaten kündigen beschleunigten Ausbau von Atomkraft an

 Bamberger Schlachthof vor dem Aus