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19.02.2022 | 11:43 | Ernüchternde Bilanz 

100 Tage nach UN-Klimagipfel: Staaten weiter nicht im Notfallmodus

London/Berlin - Geschichtsträchtig sei die UN-Klimakonferenz gewesen, jubelte Mitte November die deutsche Umweltministerin in Glasgow.

Klimawandel
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«Dies ist der wichtigste Kampf unseres Lebens!», mahnte der UN-Generalsekretär bewegt auf dem UN-Klimagipfel. Alle Länder müssten «radikal» ihren Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase drosseln. Doch 100 Tage später ist die Bilanz aus Sicht von Experten recht dürftig. (c) proplanta
Die Klimaaktivistin Greta Thunberg sprach hingegen schon damals geknickt von bloßem «Bla, bla, bla». Nun, 100 Tage später, ziehen Experten eine ernüchternde Bilanz.

Es gebe leider nur wenig Fortschritt bei der Umsetzung der Gipfelbeschlüsse, sagt etwa der Klimaforscher Niklas Höhne der Deutschen Presse-Agentur. So habe noch kein großes Land, auch Deutschland nicht, sein Klimaschutzziel für 2030 erhöht - wie es die Abschlusserklärung bis spätestens zum Jahresende fordert. Ebenso habe sich der Kohleausstieg weltweit nicht wie angestrebt beschleunigt. Und auch klimaschädliche Subventionen, die laut Gipfelbeschluss auslaufen sollen, «fließen weiter reichlich», bemängelt er.

Und tatsächlich: Erst am Montag rechnete etwa die gemeinnützige britische Organisation ShareAction vor, dass 25 europäische Banken 2021 mit satten 55 Milliarden US-Dollar neue Gas- und Ölproduktionsstätten finanziert hätten. Vorne mit dabei laut der Analyse: HSBC, Barclays, BNP Paribas und Deutsche Bank. Und das, obwohl sich die Geldhäuser der Organisation zufolge schon länger dem Ziel der Klimaneutralität verpflichtet haben.

China kündigte diese Woche sogar an, in diesem Jahr nicht weniger, sondern wieder mehr Kohle zu verbrauchen. Regierungschef Li Keqiang sagte, der Strombedarf der Wirtschaft und Bürger müsse unbedingt gedeckt werden. Um seine Klimaziele zu erreichen, wollte das Riesenreich eigentlich Treibhausgas-Emissionen strikt reduzieren. Lokalregierungen hatten im vergangenen Jahr deshalb begonnen, Strom zu rationieren - was nun vermieden werden soll.

Auch der Plan der EU-Staaten, die Wirtschaft nach der Corona-Krise «grüner» und klimafreundlicher wiederaufzubauen, scheint zu verpuffen. In den 27 Staaten wurden zuletzt fast so viele klimaschädliche Treibhausgase ausgestoßen wie vor der Pandemie, wie erst diese Woche die Statistikbehörde Eurostat meldete.

Der Klima-Experte der Organisation Oxfam, Jan Kowalzig, wirft der EU außerdem vor, ihre Klimaziele mit der Begründung, sie seien schon ehrgeizig genug, gar nicht nachschärfen zu wollen. «Das ist Unsinn», sagte Kowalzig der dpa. Die derzeitigen Ziele ließen sich auf keine Weise «als fairen Beitrag der EU zum global nötigen Klimaschutz» darstellen.

«Solche Haltungen untergraben das gegenseitige Vertrauen der Staaten in den Prozess der UN-Klimarahmenkonvention und sind also wenig hilfreich.» Von Deutschland fordert der Experte, als aktuelle G7-Präsidentschaft Akzente zu setzen.

Nach dem Antritt der neuen Bundesregierung vermissen viele bei den Koalitionspartnern SPD, Grüne und FDP Tempo und Ehrgeiz beim Klimaschutz. «Insbesondere beim Problemsektor Verkehr ist der Koalitionsvertrag sehr unentschlossen», sagt die Klima-Expertin der Umweltorganisation Germanwatch, Rixa Schwarz, dazu der dpa.

Es habe derzeit nicht den Anschein, als wolle die Ampel den nötigen teilweisen Umstieg von Flugzeug und Auto in die Bahn wirklich angehen. Das zeige auch die Diskussion um die «sozial ungerechte und klimapolitisch schädliche» erneute Anhebung der Pendlerpauschale. «Sollte Deutschland ab jetzt immer noch weitere Schnellstraßen bauen, wäre das ein deutliches Signal, dass Klimaschutz im Verkehr für die Ampel zweitrangig ist.»

Ähnlich skeptisch äußert sich Höhne, Leiter des NewClimate Institutes und Professor an der niederländischen Universität Wageningen: Die neue Bundesregierung habe «noch nicht in den Notfallmodus geschaltet». Sie habe etwa noch nicht das deutsche Klimaziel für 2030 erhöht, so wie es der Gipfelbeschluss vorsieht. Kritisch sei auch Deutschlands Festhalten am Kompromiss, Gas und Kernenergie im Rahmen der EU-Taxonomie als nachhaltig zu bezeichnen. «Das sind leider alles Beispiele für halbherzige Kompromisse und das Gegenteil von konsequentem Handeln.»

Bis im November Ägypten die Präsidentschaft der Weltklimakonferenz übernimmt, ist weiterhin Großbritannien am Zug, global gesehen den Druck aufrechtzuerhalten. «Großbritannien ist in der Lage und auch dafür verantwortlich, dass die Ankündigungen umgesetzt werden», sagte der Chef der Internationalen Energieagentur kürzlich dem «Guardian».

Auch Laurence Tubiana, die französische Diplomatin, die als Architektin des Pariser Klimaabkommens von 2015 gilt, sagte der Zeitung: «Es ist sehr wichtig, dass Großbritannien auf Kurs bleibt.» Man drücke die Daumen, dass die britische Regierung sich nicht von ihren Klimazielen abwende.

Diese Sorge ist nicht ganz unbegründet: Boris Johnson, der sich Klimapolitik auf die Fahnen geschrieben hat, steht innenpolitisch enorm unter Druck und muss nach der «Partygate»-Affäre noch immer mit einem Misstrauensvotum rechnen. Sein politisches Überleben hängt vom Wohlwollen seiner konservativen Hinterbänkler ab. Ein loser Verbund aus Abgeordneten macht mit Blick auf die stark steigenden Energiepreise bereits Stimmung gegen Johnsons Klima-Pläne.

«Großbritannien hinkt bei der Umsetzung der Maßnahmen zur Abkehr vom Gas, zur Dämmung von Gebäuden und der Renaturierung von Landschaften bereits hinterher, die nötig sind, um die Klimaziele einzuhalten, geschweige denn, ambitionierter zu werden», sagte die Expertin Alex Scott von der britischen Denkfabrik E3G der dpa.

Versanden könnte auch die in Glasgow viel beachtete Initiative von gut 140 Staaten, die Waldzerstörung bis 2030 zu stoppen, für die es aber keinen verpflichtenden Vertrag gibt. Schon 2014 habe es eine ähnliche Vereinbarung gegeben, doch sei die Waldzerstörung weitergegangen, sagte Susanne Winter, Wald-Expertin der Umweltorganisation WWF, der dpa. «Der Erklärung von Glasgow droht nun ein ähnliches Schicksal.» Seit 1990 sind nach UN-Angaben schon etwa 420 Millionen Hektar Wald verloren gegangen - umgerechnet etwa das 1.600-fache der Fläche des Saarlands.
dpa
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