Zurückhaltend oder aggressiv? Markiert oder nicht? Wer in Berlin ein Wildschwein sieht, kann online Fragen wie diese beantworten - zugunsten der Wissenschaft.
Es sind Daten, über die sich die Doktorandin Milena Stillfried freut. Aus verschiedensten Quellen trägt sie Informationen über Berliner
Wildschweine zusammen und wertet sie aus.
Vor Jahren war es zu einer Art Invasion der Tiere in Gebieten am Rand der Hauptstadt gekommen. In Rotten tauchten sie in Parks auf, pflügten auf Nahrungssuche Gärten um und lösten eine Debatte darüber aus, wie der Sache Herr zu werden sei. Wildtiere vor der Haustür zu erforschen, neben exotischen Arten in aller Welt, diese Idee kam damals am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) auf, erzählt Stillfried. Oberstes Ziel: verstehen und wissenschaftlich untermauern, warum Wildschweine in die Stadt kommen.
Statt Namibia oder Kenia durchstreifen sie und ihre Kollegen nun Strausberg und den Grunewald, Potsdam und Pankow. Zum Beispiel, um Wildschweine zu fangen und sie mit GPS-Halsbändern auszustatten. Diese übermitteln Geodaten, anhand derer die Forscher die Aufenthaltsorte der Tiere rund um die Uhr nachverfolgen können.
Der erste Fang gelang nach sechs Monaten, mit einer Falle: «Die Tiere sind wahnsinnig intelligent», sagt Stillfried. «Und wenn man glaubt, den Dreh herauszuhaben, läuft beim nächsten Versuch alles anders.» 12 Tiere - von geschätzt bis zu 4.000 in Berlin - haben auf diese Weise bisher Daten beigesteuert. Zuvor waren Forscher auf Hinweise von Jägern zu Wildwechseln und Futterstellen angewiesen.
«Die Aktionen sind eng mit zahlreichen Behörden abgestimmt», betont der Sprecher der Berliner Forsten, Derk Ehlert. Er hält die Forschung Stillfrieds für wichtig: Die Stadt könne daraus vieles lernen - etwa wo Wildschweine besonders oft Straßen überqueren. «Mit dem Aufstellen oder Entfernen von Zäunen können wir dann reagieren.»
Doch die GPS-Daten allein reichen dem Forscherteam nicht aus: Sie sammeln auch genetische Proben, um etwa Verwandtschaftsverhältnisse zu untersuchen. Bei gejagten Tieren wird zudem der Mageninhalt untersucht: Dies erlaubt Rückschlüsse auf die Qualität der Nahrung und damit auf die körperliche Verfassung der Tiere.
Bürger-Beobachtungen aus einem relativ großen Gebiet liefern Zusatzinformationen: «Wir als kleines Team könnten das gar nicht abdecken», sagt Stillfried. «Natürlich interpretieren wir die Daten mit großer Vorsicht. Nur weil aus einer Region keine Meldung kommt, dürfen wir nicht annehmen, dass dort keine Wildschweine sind.»
Zwar bereiten die Tiere inzwischen weniger Probleme als vor Jahren: Doch noch immer erhalten Jäger in Berlin rund 100 Mal im Jahr eine Ausnahmegenehmigung zum Abschuss - etwa bei verletzten Tieren, sagt Ehlert. Durch die Jagd könne man den Wildschweinen wegen der Auflagen in der Stadt aber kaum beikommen, meint Nabu-Sprecherin Anja Sorges. Naturschützer fürchten, dass Wildschweine auf Nahrungssuche Biotope anderer Arten zerstörten. Betroffen seien etwa Insekten-, Amphibien- und bodenbrütende Vogelarten.
Das am IZW zusammengetragene Wildschwein-Wissen könnte helfen, einen gemeinsamen Nenner zu finden für die Interessen von Behörden, Naturschützern und Bürgern. Rund 100.000 GPS-Positionen und Proben von 440 geschossenen Tieren hat Milena Stillfried inzwischen beisammen. Ausgewertet sind längst nicht alle.
Dennoch ergeben die verschiedenen Aspekte langsam ein Bild: Die Wildschweinrotten pendeln offenbar zwischen städtischen und ländlichen Gebieten, angeführt von der Leitbache. «Im urbanen Raum haben sie einen deutlich kleineren Bewegungsradius als reine Waldschweine.» Sie seien extrem gut angepasst und ganz schön «abgehärtet» bei Begegnungen mit Menschen. Gute Voraussetzungen, zumindest für die Bürger-Beobachtungen via Internet. (dpa)