In den Kinder- und Jugendpsychiatrien sowie den Beratungsstellen nimmt die Zahl der Anfragen zu. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) schlug jüngst Alarm: Die Kinder- und Jugendpsychiatrien seien voll, dort finde eine Triage statt.
«Der Begriff Triage ist etwas unglücklich gewählt, aber wir sprechen schon von einer Notlage. Es gibt erhebliche Engpässe», sagt die Sprecherin des BVKJ-Landesverbandes Hessen, Barbara Mühlfeld. Erkrankungen, die unter normalen Umständen nicht ausgebrochen wären, hätten sich aufgrund der Pandemie manifestiert.
Triage bedeutet, dass Mediziner aufgrund von knappen Ressourcen entscheiden müssen, wem sie zuerst helfen. Das Wort stammt vom französischen Verb «trier», was «sortieren» oder «aussuchen» bedeutet.
Die Kinder- und Jugendärztin Mühlfeld aus Bad Homburg berichtet von einer Zunahme bei Depressionen, Angst- und Essstörungen. Auch körperliche Folgen wie Gewichtszunahme durch Bewegungsmangel seien häufig zu beobachten. «Allein für unsere Praxis haben wir ein Plus von mehr als 1.000 Kilo berechnet.» Augenärzte berichteten von zunehmender Kurzsichtigkeit, weil die Kinder zu wenig im Freien und zu häufig vor dem Bildschirm seien. «Die Auswirkungen sind sehr vielfältig und einschneidend.»
Auch das hessische Sozialministerium hält den Begriff der Triage für unzutreffend. Die stationäre und ambulante
Versorgung für Kinder und Jugendliche in Hessen sei insgesamt gut. Hessen habe im vergangenen Jahr die stationären Kapazitäten ausgebaut und eine neue Klinik in
Betrieb genommen. «Gleichwohl haben die Pandemie und die damit einhergehenden
Hygienevorschriften dazu geführt, dass die Bettenkapazität reduziert werden und eine Priorisierung vorgenommen werden musste.»
Das bestätigen auch die Vitos Kinder- und Jugendkliniken für psychische Gesundheit. «Notfälle werden in unseren Kliniken immer unmittelbar behandelt», sagt Dietmar Eglinsky, Klinikdirektor in Kassel. Die Kliniken verzeichnen nach eigenen Angaben derzeit zwar eine deutliche Zunahme an Patienten mit schweren psychischen Erkranken und pandemiebedingt könne das Behandlungssetting, das je nach Erkrankungsschwere gewählt werde, variieren. «Das ist eine Form der Priorisierung, aber keine Triage. So wurde schon immer gearbeitet, auch außerhalb der Pandemie.»
Seit Beginn der Coronakrise gehen auch bei den Beratungsstellen des Kinderschutzbundes in Hessen mehr Anfragen ein. «Wir haben unsere Beratungszeiten massiv ausgeweitet, um die steigende Zahl der Anfragen zu bewältigen. Wir tun dies, soweit es unsere Kapazitäten erlauben. Die Grenze ist allerdings bei allen erreicht», sagt Geschäftsführerin Olivia Rebensburg.
Besonders häufige Beratungsthemen seien Depressionen und soziale Ängste. «Viele Kinder und Jugendliche leiden massiv unter dem Druck in Zusammenhang mit der schulischen Situation.» Sie hätten Angst, im Schulstoff nicht mehr mitzukommen.
Auch die Fälle von Familien, die eigentlich stabil waren, aber jetzt einfach am Ende seien, häuften sich. «Trennungen und Scheidungen bereiten in vielen Familien große Sorgen, weil sie unter den derzeit beengten Verhältnissen noch belastender sind als ohnehin.» Den Familien mangele es an Sicherheit, Stabilität und Perspektiven, den Kindern an sozialen Kontakten, Spaß und Bewegung.
Rebensburg fordert, die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen stärker in den Blick zu nehmen. «Studien belegen, dass sie sich übergangen fühlen. Sie wollen und müssen gehört werden.» Und es brauche langfristige Angebote. «Probleme, die sich in 17 Monaten aufgebaut habe, sind nicht durch eine zweiwöchige Ferienmaßnahme zu kompensieren.»
Auch Barbara Mühlfeld vom BVKJ sagt: »Es braucht schnell tiefgreifende Konzepte, wie die Defizite aufgefangen werden können. Ansonsten schieben wir eine Bugwelle vor uns her.» Besonders Kinder aus ressourcenarmen Familien bräuchten dringend Unterstützung.