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17.12.2011 | 08:24 | EHEC-Krise 

Panik und Puzzlestücke: Das EHEC-Rätsel und seine Lösung

Berlin/Hamburg - Die EHEC-Epidemie in diesem Frühsommer kommt wie ein böser Spuk. Kerngesunde Menschen liegen plötzlich auf der Intensivstation.

EHEC-Rätsel
(c) proplanta
53 von ihnen überleben die Attacke des aggressiven Lebensmittel-Keims nicht, Dutzende spüren die Folgen bis heute. Drei lange Wochen hat es gedauert, die Ursache für den größten bekannten EHEC-Ausbruch in Deutschland zu finden: frische Sprossen. Ihre Spur führt über Bockshornkleesamen bis nach Ägypten. Keime wie EHEC sind «Global Player» geworden - auch das macht sie so tückisch.

Wochenlang herrscht in Deutschland EHEC-Panik, sogar Touristen stecken sich an. «Auch wenn das am Anfang als eine sehr lange Zeit erschien. Im Vergleich zu früheren großen Ausbrüchen weltweit kann sich das Tempo der Aufklärung sehen lassen», bilanziert Christina Frank, Expertin am Berliner Robert-Koch-Institut (RKI). Und doch offenbarten sich Lücken, vor allem in Behördenstrukturen. Die politische Aufarbeitung läuft. Das Meldesystem soll schneller werden, Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) will auch die Lebensmittelüberwachung neu organisieren. EHEC hinterlässt Spuren.

Auch bei den Patienten. Michael Frotscher, dessen Leben zeitweise auf der Kippe stand, erzählt bei einem Symposium in Hamburg: «Ich hatte Mühe zu sprechen - das war nicht gleich weg.» Sein Blutdruck sei immer noch zu hoch. Beim Joggen seien anfangs selbst kurze Wege zu anstrengend gewesen.

Mittlerweile schafft der 64-Jährige wieder 15 bis 20 Kilometer. Die Leichtigkeit fehle aber noch. Und noch etwas hat die Krankheit verändert: «Ich habe ein anderes Gefühl für jeden Tag und jede Stunde.» Viele Patienten litten noch unter Magen-Darmbeschwerden, Bluthochdruck, neurologischen Problemen, Ängsten und Depressionen, berichten Ärzte bei dem Treffen in Hamburg.

Die Stadt war am schwersten vom Ausbruch betroffen. Niemand rechnete hier mit einer solchen Krise. «Man war überhaupt nicht vorbereitet», erinnert sich Friedrich Hagenmüller, Chefarzt an der Asklepios Klinik in Hamburg-Altona. In die Notaufnahme kommen pausenlos Patienten mit Durchfall. Sie brauchen Betten. Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) diagnostizieren Ärzte allein bei 137 Erwachsenen das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS), die schwerste Form einer EHEC-Infektion mit Nierenversagen und Nervenleiden.

Experten suchen immer verzweifelter nach der Ursache. Warum erkranken vor allem Frauen, die sich gesund ernähren? Was haben sie nur gegessen, wo ist der gemeinsame Nenner? Die Fachleute vom RKI erfahren erst am 19. Mai von HUS in Hamburg - mehr als zehn Tage nach dem Beginn der Probleme. Das Unverständnis über die deutsche Föderalismus-Bürokratie wächst.

Auch die Nervosität nimmt zu. Wo kommt dieser Keim her? Mitten in dieser schwierigen Lage erweist sich der erste Lebensmittel-Verdacht auch noch als Irrtum mit weitreichenden Folgen. Das RKI warnt am 22. Mai vor Tomaten, Gurken und frischem Salat. Denn alle Kranken haben Salat gegessen. Dies scheint der gemeinsame Nenner zu sein. Der Absatz von frischem Gemüse bricht dramatisch ein. Das RKI hält seine Warnung noch heute für berechtigt und notwendig. «Wir hatten einen starken Hinweis auf einen Zusammenhang. Auf so einer Information kann man nicht sitzenbleiben», sagt Frank, RKI-Expertin für Magen- und Darminfektionen. «In dieser Zeit infizieren sich möglicherweise noch mehr Menschen.»

In den Hamburger Kliniken sind Ärzte und Pflegepersonal bald am Rande ihrer Kräfte. Die Epidemie bleibt rätselhaft. «Es gab kein Lehrbuchwissen», sagt Chefarzt Hagenmüller. Die Ärzte probieren verschiedene Therapien aus, es wirkt wie ein Blindflug. Patienten liegen hilflos im Bett; viele haben Todesangst. Einer der schlimmsten Momente für Frotscher, der sich an einige Tage im Mai nicht mehr erinnern kann: «Bei einer größeren Visite wusste ich, was ich antworten wollte, aber ich habe es nicht hinbekommen, es zu sagen».

Forscher enttarnen schließlich den EHEC-Keim, es ist eine aggressive Gen-Kombination aus zwei Bakterienstämmen mit Namen O104:H4. Auch die Lebensmittel-Fahnder kreisen ihren «Feind» weiter ein. Sie interviewen erkrankte Restaurantbesucher, schnüffeln in den Rezeptsammlungen von Großküchen und werten Fotos von Familienfeiern aus. Die Spur führt zu einem Bio-Hof im niedersächsischen Bienenbüttel, der Sprossen züchtet. Er hatte über Zwischenhändler Bockshornkleesamen aus Ägypten bezogen. Der größte Teil des Rätsels ist damit gelöst. Tomaten, Gurken und Salat werden rehabilitiert. Die Panik ebbt ab, die Zahl der Neuinfektionen geht zurück.

Der wirtschaftliche Schaden lässt sich bald in Zahlen fassen: Die Europäische Union zahlt Landwirten noch im Sommer 227 Millionen Euro Entschädigung. Für Ärzte, Forscher und Patienten aber ist EHEC noch nicht vorbei. Erst Mitte November kann Rolf Stahl, Nierenspezialist am UKE, eine Zwischenbilanz bei der HUS-Behandlung ziehen: Die Antikörpertherapie wirkt, der Rest nicht. Bis heute kommen mehr als 100 Patienten regelmäßig zur Nachuntersuchung, 10 bis 15 Prozent haben leichte Schäden zurückbehalten.

Und so ganz wird der Spuk nie vorbei sein. «Dieser EHEC-Ausbruch zeigt, dass so etwas auch wieder passieren kann», sagt RKI-Expertin Frank. «Wir sollten uns darauf einrichten, dass wir alle paar Jahre, zumindest aber alle paar Dutzend Jahre, mit einem neuen wichtigen EHEC-Stamm rechnen müssen.» Das Bundesinstitut für Risikobewertung mahnt deshalb mehr Forschung an. Denn der Nachweis von EHEC ist immer noch sehr schwierig - und damit auch die Enttarnung der nächsten Angreifer an der Keim-Front. (dpa)
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