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08.08.2009 | 15:25 | Bundestagswahlen 2009 

Die Macht der Normalen - Protestalltag in Deutschland

Berlin - Wer sich gegen Großes stemmt, handelt sich oft Frust ein, kann aber auch etwas Magisches erleben.

Dt. Bundestag
(c) proplanta
Pläne von Konzernen oder Regierungen können durchkreuzt werden. Einzelne Menschen bekommen Einfluss über das Kreuz auf dem Wahlzettel hinaus. Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland und vierzig nach der Studentenbewegung leben wir in einer Zeit vieler immer wieder hochkochender Proteste. Vor der Bundestagswahl ist der Protestkalender markant bestückt.

Sind die Themen andere als früher? Sind Massenproteste wie die Hunderttausender gegen den NATO-Doppelbeschluss oder gegen die Atom- Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf in den 80ern überhaupt noch denkbar? Wer protestiert in Deutschland heute wogegen - und wenn überhaupt, wie?

Diese Suche nach den Orten und Menschen des Protestes beginnt bei Petra Schmidt. Sie ist eine resolute Frau und lebt in Mörfelden- Walldorf. Seit sie denken kann, leistet sie Widerstand gegen den immer weiter wachsenden Frankfurter Flughafen in ihrer Nachbarschaft. Manchmal ist die 45-Jährige das Protestieren leid. «In dem Moment, in dem es keine Erweiterung mehr gibt, würde ich mich vielleicht zurücklehnen», sagt Schmidt. «Aber eigentlich bin ich zu sehr damit verwoben, als dass ich aufhören könnte.» Was treibt einen an, sich aufzulehnen?

Wenn alles in Ordnung ist, gibt es keinen Protest. Erst Krisenerscheinungen lassen Protest hochkommen, das Leiden daran und jemanden, den man verantwortlich machen kann. Im Fall von Petra Schmidt ist das der Flughafenbetreiber Fraport. «Der Flughafen strukturiert die ganze Region neu, ohne demokratische Einflussnahme, ohne Rücksicht auf den Klimawandel und die Natur», meint sie. Den ständig wachsenden Airport, den immer weiter zunehmenden Flugverkehr empfindet sie als monströs in Zeiten von bedrohter Natur und Erderwärmung. Doch was kann eine einzelne Frau dagegen schon tun?

Normale Leute sind alleine ziemlich machtlos, wenn die Vertreter der Mehrheit etwas anders beschließen. Aber was heißt das schon? Es war ein Einzelner, der die erste Hartz-IV-Demonstration in Magdeburg initiierte. Der arbeitslose Bürokaufmann Andreas Ehrholdt bastelte ein Miniaturplakat mit dem Slogan «Schluss mit Hartz IV», kopierte es einige hundert Mal, hängte es in der Stadt auf und wartete am Nachmittag des 26. Juli 2004 auf einer Bank am Domplatz. Gut eine Stunde später protestierten 600 Bürger. Bis Ende August schaukelten sich damals die Demos zu Massenveranstaltungen mit mehreren zehntausend Teilnehmern in Ostdeutschland hoch. Schon zwei Monate später schrumpften sie allerdings auf einige hundert zusammen.

Es blieb eine Episode in einer losen Kette von Sozialstaatsprotesten, ohne über die Betroffenen hinausgehende Solidarisierung, ohne dauerhafte Organisation. Die Größe der Montagsdemos gegen Sozialabbau hat viele eher überrascht als ihr Abebben. Bei Arbeitslosigkeit, Chancenmangel, Ausgrenzung droht in der Regeln eher politischer Rückzug als ein Aufstand.

Sind die Zeiten also schlecht für Proteste? Schon bei besserer Konjunktur herrscht reichlich Konformität, dominiert der Konkurrenz- vor dem Klassenkampf. Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise verschärft noch die Vereinzelung, heißt es jetzt öfter. Schließlich will keiner der erste sein, der seinen Job verliert. Die fallenden Kurven erst der Börsen, dann des Arbeitsmarkts erscheinen schwer verstehbar, vielleicht unvermeidlich, kaum jemandem konkret anzulasten.

Und trotzdem lehnen sich Menschen auf. Im März zogen Zehntausende gegen Steuermilliarden für Banken durch die Städte. Zehn Tage vor der Bundestagswahl, am 17. September, soll es unter dem Motto «Wir zahlen nicht für eure Krise» wieder auf die Straße gehen. Von Ohnmachtsgefühl ist es manchmal nur ein Schritt zur Aussicht, von allen gehört zu werden. Im Sog der Wirtschaftsprobleme kommt es immer wieder zu einzelnen Protesten von Betroffenen, die gemeinsam eine Stimme haben. Tausende Mitarbeiter von Opel haben demonstriert, die Leute von Karstadt sind für ihre Jobs genauso auf die Straße gegangen wie die der WestLB.

Und wenn alles nichts hilft? Petra Schmidt kennt den Frust nach ungehörtem Protest. Vielen ihrer früheren Mitstreiter fehlt heute die Kraft oder der Wille, sich gegen das übermächtige Dröhnen der Jumbo Jets vom Frankfurter Flughafen zu stemmen. 1980 fielen die Bäume für die erbittert umkämpfte Startbahn West. «Der gerodete Wald hat viele in ein Tief geritten», sagt Schmidt. «Es gibt etliche, die sagen: Das tue ich mir nicht mehr an. Viele sagen: Wir sind zusammengeschlagen worden, die haben trotzdem gebaut. Jetzt können wir nicht mehr.» Anfang dieses Jahres kreischten im angrenzenden Kelsterbacher Wald nach jahrelangem Streit die Kettensägen für die geplante Landebahn Nord.

Schmidt klingt aber überhaupt nicht niedergedrückt. Ihre Protestbiografie fing vor rund 30 Jahren an. «Als Jugendliche war es für uns Ende der 70er normal, sich gegen die Startbahn West zu engagieren. Mit Bekannten vom Jugendzentrum bin ich auf Demos mitgegangen», erzählt sie. Schnellen Erfolg braucht sie nicht. Sie erzählt auch mit Verständnis von den Menschen, die auf dem Flughafen arbeiten, die eine andere Sicht der Dinge haben. «Erreicht haben wir, dass das Thema überhaupt kritisch in der Diskussion ist.» Seit zwölf Jahren tobt der Streit um den nächsten Ausbau. Nun ist die Landebahn Nord bis 2011 geplant. «Ohne uns wäre dieser Flughafen viel schneller weiter ausgebaut worden.»

Kleine und klare Anliegen sind besser erreichbar als große. Und ganz konkret Kante zu zeigen, macht den Protestalltag in Deutschland heute überwiegend aus. Zwar gibt es auch die in Foren und Blogs viel effizienter als früher vorbereiteten Massendemos etwa am Rande des Jubiläumsgipfels der NATO in Straßburg und Baden-Baden im April, als sich Militante aus dem Schwarzen Block offene Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Doch die Mehrzahl der Kundgebungen sind kleineren Ausmaßes, etwa jene der Küstenfischer, die im Juni auf ihren Booten gegen Fangbeschränkungen protestierten.

Mal sind es von den Gewerkschaften straff organisierte Proteste mit maximaler Wirkung - wie bei den monatelangen Kita-Streiks der Erzieherinnen, die Ende Juni mit einem Tarifabschluss endeten. Oder es sind Hacker-Attacken, die vermeintlich sichere IT-Systeme knacken, um sie zu entlarven. Die so genannten Hacktivisten brauchen nicht auf die Straße zu gehen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Oder es ist Widerstand in Weiß, der dieses Jahr besonders hervorsticht, weil er zeigt, dass Protest in allen Schichten vorkommt. Ausgerechnet die im Schnitt besserverdienenden Ärzte haben im Wahljahr bislang besonders viel protestiert - mit Praxisschließungen und Kundgebung beklagten sie vermeintliche Einbußen und Gängelung. Soziologen wundert das nicht, wie Analysen zeigen. Viele angehende Ärzte sind demnach Status gewohnt, Medizinstudenten kommen statistisch gesehen eher aus wohlhabenderen Familien. Die Erwartungen sind also groß, wenn die «Götter in Weiß» ihren Beruf antreten - entsprechend enttäuscht sind viele, wenn Verdienst oder Aufstiegsmöglichkeiten geringer ausfallen als erhofft.

Im Sommer kam plötzlich eine neue Aufwallung. «Drehen die Studenten durch?», fragte eine Boulevardzeitung. Hunderttausende Schüler und Studenten raffen sich zu den größten Bildungsprotesten seit Jahren auf. Studenten besetzen symbolisch Bankfilialen. Ihre Waffen: Seifenblasen. Zu wirkungsvoller Organisation kommen Frust und Lust auf Aktionen. Anstoß nehmen die Demonstranten und Besetzer an «Turbo-Abitur», vollen Hörsälen und Studienplänen, an Studiengebühren. Die Bildungsminister zeigen sich zwar zunächst nicht sonderlich beeindruckt. Aber immerhin: Jetzt wollen sie Verschulung und Punktezählen bei den Bachelor-Studiengängen Einhalt gebieten.

Doch wie weit hilft frontale Gegnerschaft überhaupt gegen die großen Skandale der Zeit? Will man die Entwicklung der Proteste in den vergangenen Jahrzehnten verstehen, lohnt das Verweilen bei einem Satz, der bei der Besetzung des Uni-Rektorats in Halle gefallen ist. Der Studentensprecher des Orientalischen Instituts erklärte dort im Juni: «Wir wollen hier nicht verhandeln, sondern fordern zum Handeln auf.»

Viele Demonstranten von einst verfolgten die gegenteilige Strategie. Die klassische Arbeiter-, Frauen, aber auch Dritte-Welt-, Umwelt oder auch Schwulenbewegungen finden heute nicht mehr unbedingt auf der Straße statt. Sie sind angekommen, Teil des Mainstreams, vielleicht auch vereinnahmt worden. Demonstranten von früher legen heute oft lieber Hand an die Hebel der Macht, als den ganzen Machtapparat stürzen zu wollen. Als Cem Özdemir sich mit anderen Grünen-Promis im November in die Gorlebener Massendemo gegen Atommülltransporte einreihte, ging es wohl eher um Glaubwürdigkeit kurz vor seiner Wahl zum Parteichef als um persönlichen Einsatz für Veränderung vor Ort. Und auch die Welt vieler Klima- und Naturschützer ist heute eher die der Sitzungssäle als der Äcker und Protestcamps.

Zehn Jahre, nachdem Globalisierungsproteste junge Leute weltweit zu elektrisieren begannen, sind sie heute zwar nicht ganz abgerissen. Doch auch hier zielt das Engagement heute oft eher auf direkte Einflussnahme. Mit Sven Giegold sitzt ein Mitbegründer von Attac Deutschland sogar frisch im Europäischen Parlament. Er wirkt eher intellektuell und kühl als kämpferisch.

Wie radikal muss jemand sein, der gegen etwas antritt? Petra Schmidt sagt: «Während des Studiums gab es Phasen, da war mir das Studieren egal, da war das Engagement wichtiger. Heute, mit einem Beruf, geht das nicht mehr.» Kinder hat die Walldorferin keine, hätte sie welche, meint sie, wäre es mit ihrem Engagement wohl ganz vorbei. «Oft sind die Aktiven Schüler, Studenten, Rentner oder Freiberufler. Man muss das mit dem restlichen Leben zusammenbringen.»

Schon gar nicht ist Protest gleich Jugendprotest. Es sieht eher so aus, als ob die Teilnahme Jugendlicher am politischen Leben überhaupt ein äußerst zartes Pflänzchen ist. Laut einer Umfrage haben 12 Prozent schon einmal an Wahlen teilgenommen, ebenso viele in der Schülervertretung, 24 Prozent an einer Unterschriftenaktion, wiederum 12 Prozent an einer Demonstration. Ob sich Jugendliche so wie Erwachsene von der Politik entfremdet fühlen oder sogar stärker, darüber streiten die Gelehrten noch.

Wenige, ganz wenige Bundesbürger führen eine Art bürgerliches Leben für den Protest. Einer von ihnen ist Jochen Stay. Der 43-jährige Familienvater demonstrierte schon mit 15 gegen die Nachrüstung. Nach dem Abitur zog er erstmal von Mannheim ins 160 Kilometer entfernte Mutlangen, um sich gegen Pershing-Atomraketen zu wehren. Später verschlug es ihn - verliebt in eine Gesinnungsgenossin - ins Wendland, wo er zum Sprecher der Anti-Atom-Kampagne wurde.

Heute verdient er seinen Unterhalt in der von Privatleuten finanzierten Bewegungsstiftung, wo er zum Beispiel Blockaden wie beim G8-Gipfel Heiligendamm 2007 oder bei den Castortransporten mitorganisiert. «Wir pflegen das gründlich vorzubereiten», sagt der Mechaniker des Widerstands. «Viele Leute sind zum ersten Mal dabei und haben Ängste. Wichtig ist, das so zu organisieren, dass es sich sicher anfühlt.» Dazu gehören Verpflegung, juristischer Beistand und Training für polizeiliche Räumung.

Ist es kein Risiko, sich an Schienen zu ketten oder Zufahrtsstraßen zu blockieren? «Es war in gewisser Weise eine schöne Erfahrung, das erste Mal von der Polizei mitgenommen zu werden», meint Stay. «Hinterher wusste ich immer: Davor brauchst du keine Angst mehr zu haben.» Nur einmal war er länger in einer Polizeizelle, dreieinhalb Tage, nach dem Widerstand gegen einen Castor-Transport. «Am Ende habe ich recht bekommen», meint er aber. Stay will mit möglichst begrenzten Regelverletzungen maximalen Ungehorsam erzielen.

Derzeit sind schon wieder Busse und Sonderzüge zu organisieren für eine geplante Anti-Atom-Großdemo rechtzeitig zur Wahl, am 5. September in Berlin. Verlieren die Proteste ihre Hartnäckigkeit? Petra Schmidt aus Walldorf überlegt. «Die Leute engagieren sich nicht mehr so kontinuierlich», sagt sie. «Man merkt: Das Engagement bröckelt, wenn staatliche Stellen es ignorieren.« Doch schnell bekommt ihre Stimme wieder diesen Grundton zwischen Gelassenheit und Optimismus. «Beim Nachflugverbot», sagt sie, «könnte vor Gericht noch etwas herauskommen.» (dpa)
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