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19.04.2014 | 10:33 | Saatgutbehandlung 
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Neonikotinoide und das Bienensterben

Berlin - Seit Anfang der 2000er Jahre stehen bestimmte in der Saatgutbehandlung verwendete Pflanzenschutzmittelwirkstoffe im Verdacht, für das „Bienensterben“ mitverantwortlich zu sein.

Bienensterben
(c) proplanta
In zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen wurden seitdem die Wirkungen der sogenannten Neonikotinoide auf die Bienen beschrieben. Der Verwendung einiger Wirkstoffe ist seit dem letzten Jahr EU-weit erheblich eingeschränkt und zum Teil verboten worden. Ein kurzer Abriss der Entwicklung im letzten Jahrzehnt.

Anfang des Jahres 2003 beklagten die deutschen Imker massive Verluste von Bienenvölkern von im Durchschnitt 30 Prozent. In normalen Jahren betragen die Verluste etwa 10 Prozent der Völker. Die Anwendung von Neonikotinoiden zur Saatgutbehandlung von Kulturpflanzen wie Raps und Mais stand im Verdacht, die Bienenvölker über vergifteten Nektar und Pollen derartig geschwächt zu haben, dass diese den Winter nicht überlebten.

Im benachbarten Frankreich machten Imker die Saatgutbehandlung von Sonnenblumen und Mais mit dem Wirkstoff Imidacloprid für die Bienenverluste verantwortlich, die dort seit den 90er Jahren beobachtet wurden. Auch in Deutschland wurden in verschiedenen Veröffentlichungen Saatgutbehandlungsmittel mit dem Wirkstoff Imidacloprid als mögliche Verursacher diskutiert.

Das „Bienensterben“ im Winter 2002/2003 stellte trotz langjähriger Anwendung von Pflanzenschutzmitteln mit dem Wirkstoff Imidacloprid in Deutschland eine Ausnahme dar. Auch konnte Imidacloprid seit der erstmaligen Zulassung 1993 bis dato in keiner Bienen- oder Pflanzenprobe, die bei der Bienenuntersuchungsstelle in der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft untersucht worden war, nachgewiesen werden.

Das Resümee eines vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) im Jahr 2004 veranstalteten Symposiums lautete: Aufgrund der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse seien die behaupteten Pflanzenschutzmittelwirkungen nicht ursächlich mit dem „Bienensterben“ des Winters 2002/2003 in Verbindung zu bringen. Als viel wahrscheinlicher galt, dass die Gesamtheit der die Honigbiene beeinflussenden Stressoren von zentraler Bedeutung sei: die Einflüsse von Witterung, Trachtangebot, Auswahl und Zeitpunkt der Anwendung von Mitteln zur Bekämpfung der Varroamilbe, die Varroamilbe selbst sowie die von ihr übertragenen Krankheiten, andere Bienenkrankheiten, die durch Bakterien, Pilze, Viren oder Mikrosporidien hervorgerufen werden und teilweise die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Diese Einschätzung konnte später im Rahmen des bundesweiten Bienenmonitorings bestätigt werden.

Der bis heute größte Vergiftungsfall durch Neonikotinoide in Deutschland ereignete sich im Frühjahr 2008. Nach Erhebungen des Landes Baden-Württemberg wurden etwa 11.500 Völker geschädigt. Mit einem Neonikotinoid behandeltes Maissaatgut wurde schnell als Ursache für diese Vergiftungen ausgemacht, was durch chemische Analysen von Bienen- und Pflanzenproben bestätigt wurde.

Der nachgewiesene Wirkstoff Clothianidin stammte offensichtlich von behandeltem Maissaatgut, bei dem der Wirkstoff nicht ausreichend an den Körnern anhaftete, so dass es zu einem starken Abrieb und einer Akkumulation von Stäuben in einigen Saatgutpartien kam. In der Oberrheinebene wurden zudem pneumatische Sägeräte mit Saugluftsystemen verwendet, die aufgrund ihrer speziellen Konstruktion den Clothianidin-haltigen Staub über die Abluftführung direkt in die Luft und auf blühende Pflanzen, die in der Reichweite der Staubwolke standen, verteilten. Dieses Szenario konnte später auch die Bienenvergiftungen in anderen Ländern plausibel erklären.

Noch vor der vollständigen Aufklärung der Vorfälle ordnete das BVL im Mai 2008 das Ruhen der Zulassung für eine Reihe von insektiziden Saatgutbehandlungsmitteln an. Kurze Zeit später verbot das damalige Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Aussaat von Maissaatgut, das mit Neonikotinoiden behandelt war.

Parallel dazu wurde das Problem des Wirkstoffabriebs bei Saatgutbehandlungsmitteln untersucht, um herauszufinden, welche Faktoren bei der Saatgutbehandlung und bei der Aussaat hierbei eine Rolle spielen und wie sich die Belastung der Umwelt verringern lässt. Zusammen mit dem Julius Kühn-Institut (JKI), dem Bundesverband der Deutschen Pflanzenzüchter und dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau wurden in den folgenden Jahren technische Lösungen erarbeitet, um die Staubemission zu minimieren.

Anfang 2009 gaben Experimente italienischer Bienenwissenschaftler Hinweise auf einen weiteren potenziellen Belastungspfad für Bienen: Das Guttationswasser behandelter Maispflanzen wies hochgradig bienentoxische Neonikotinoidkonzentrationen auf. Untersuchungen des JKI zeigten zudem, dass Guttation nicht nur bei Mais und anderen Gräsern, sondern auch bei einer Vielzahl weiterer Pflanzenarten zu beobachten ist, etwa bei Raps und Zuckerrübe, auch bei Ackerwildpflanzen.

Ein weiteres Untersuchungsergebnis: Die Kulturpflanzen guttieren in der Regel während der Jungpflanzenentwicklung. In dieser Phase kann die Konzentration von Wirkstoffen über mehrere Wochen sehr hoch sein. Während die nachgewiesenen Wirkstoffkonzentrationen von Neonikotinoiden in Nektar und Pollen durchweg im Bereich der Nachweisgrenze und unterhalb der für Bienen als relevant angesehenen Schwellenwerte lagen, ergaben Rückstandsanalysen in den Guttationstropfen Wirkstoffgehalte von teilweise mehr als 1.000 µg Wirkstoff pro Liter.

Bei gezielten Freilanduntersuchungen im Jahr 2010 wurde jedoch festgestellt, dass bei einer Aufstellung der Völker unmittelbar an einem Maisfeld eine nur geringfügige Erhöhung des natürlichen Totenfalls der Bienen nicht ausgeschlossen werden kann. Wenn die Bienenvölker nur wenige Meter vom Maisfeld entfernt aufgestellt wurden und ihnen alternative Wasserquellen zur Verfügung standen, wurden diese Auswirkungen nicht festgestellt.

In zwei im Frühjahr 2012 erschienenen Studien wurden erneut schädigende Auswirkungen von Neonikotinoiden wie Imidacloprid und Thiamethoxam auf bestäubende Honigbienen und Hummeln beschrieben: Bereits sehr geringe Mengen dieser Wirkstoffe beeinträchtigten den Orientierungssinn der Insekten, das Koloniewachstum von Hummelvölkern und die Bildung neuer Hummelköniginnen.

Die Experimente entfachten einen intensiven wissenschaftlichen Disput mit der Schlussfolgerung, dass die Untersuchungsergebnisse zwar auf ein potenzielles Risiko durch Neonikotinoide für Hummeln und Honigbienen unter bestimmten Expositionsbedingungen hinweisen, diese aber vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse hinsichtlich der Expositionsdauer bzw. -höhe als wenig realistisch zu bewerten waren.

Kontrovers diskutiert wurde auch die Annahme, dass für die Wirkstoffe aus der Gruppe der Neonikotinoide die sogenannte Habersche Regel anwendbar sei. Diese besagt, dass das Produkt aus Menge und Dauer einer Giftgabe einer konstanten biologischen Wirkung entspricht und folglich selbst kleinste Mengen bei dauerhafter Exposition zu Schäden führen. Dem wird entgegengehalten, dass die Habersche Regel nur bei irreversiblen Wirkungen von Summationsgiften wie krebserregenden Stoffen anwendbar sei und diese für die Wirkung von Neonikotinoiden nicht belegt ist.

Zu Beginn des Jahres 2013 präsentierte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) im Auftrag der EU-Kommission ihre Neubewertungen für drei Neonikotinoide. Auf dieser Grundlage beschloss die EU-Kommission Mitte 2013 mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 485/2013 weitreichende Restriktionen bezüglich der Anwendung der Wirkstoffe Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam. Zur Umsetzung dieser Vorschriften hat das BVL für bestimmte Pflanzenschutzmittel mit diesen Wirkstoffen das Ruhen der Zulassung ab dem 1. Oktober 2013 angeordnet.

Die EU-Kommission kündigte in ihrer Durchführungsverordnung an, sie werde innerhalb von zwei Jahren eine Überprüfung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse anstrengen, die ihr bis dahin zugegangen sind, um die getroffene Entscheidung zu prüfen und den Erkenntnissen anzupassen. (bvl)
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Kommentare 
Paul schrieb am 20.04.2014 17:58 Uhrzustimmen(122) widersprechen(155)
Man sagt zu gern, dass man nichts gefunden hätte, spricht in diesem Zusammenhange aber fast nie von der die jeweilige Untersuchungsmethode qualifizierenden Nachweis- und Bestimmungsgrenzen.
Baden schrieb am 20.04.2014 10:15 Uhrzustimmen(162) widersprechen(188)
also wenn man das so lesen tut, könnte man meinen seit 2008 ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Untermauert wird das darin, dass vor 2008 das BVL keine Neonics in den Bienen finden konnte! Doch was da bewusst oder unbewusst verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass das BVL und auch das JKI erst nach der größten je dokumentierten Bienenvergiftung aus legaler Anwendung heraus, die geeigneten Messvorrichtungen zur Verfügung hatte. Davor also immer nur im Nebel tapste. Es nicht das BVL und auch nicht das JKI, welche die Zusammenhänge zur Saatgutbeizung erstmals belegten. Das war die LUVA in Speyer! Somit ist immer noch nicht wiederlegt ob nicht doch 2002/2003 die Neonics mit zu dme Desaster beigetragen haben oder nicht! Es ist schon eine Lachnummer, wenn eine Zulassungstelle gleichzeitig sich selber kontrollieren muss. Dazu noch mit der falschen Sonnenbrille Grüßle
Paul schrieb am 19.04.2014 21:01 Uhrzustimmen(106) widersprechen(138)
Na dann ist ja alles wieder gut. Und seit 2003 in kurzen Intervallen immer wieder auftretende hohe Verluste liegen vermutlich daran, dass die Fähigkeit der Imker gut zu arbeiten ebenso intervallartig nachlässt. Vielleicht sollten die Alten auch regelmäßig einen Befähigungsnachweis ablegen, vielleicht nach einem Muster von Dr. Liebig!
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