Ein Jahr nach dem Ausbruch der
Schweinegrippe mehren sich Zweifel an den Reaktionen auf das sich weltweit verbreitende H1N1-Virus. Millionen Impfstoffdosen blieben ungenutzt, die Krankheit verlief deutlich milder als erwartet. Doch die Experten waren sich bei einem Kongress am Wochenende in Wien einig: Der Umgang war nicht überzogen und könnte sogar noch verbessert werden. In der kommenden Woche will sich auch ein Komitee der Weltgesundheitsorganisation
WHO mit dem Thema befassen.
Man habe zum Zeitpunkt des Ausbruchs im Frühjahr 2009 nicht sagen können, wie sich das Virus H1N1 entwickelt, erklärten Wissenschaftler zum Auftakt des europäischen Kongresses für klinische Mikrobiologie und
Infektionskrankheiten (ECCMID) mit rund 8.000 Teilnehmern. Das Wesen und die Entwicklung eines Grippevirus seien weiterhin kaum vorherzusehen. «Man muss bei solchen Pandemien das Unerwartete erwarten», sagte der Präsident der europäischen Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektionskrankheiten, Javier Garau.
Es sei gefährlich, die Grippewelle rückblickend als «kümmerlich» abzutun, sagte der Virologe und Mitentdecker der
Vogelgrippe bei Menschen, Albert Osterhaus: «Öffentliche Gesundheitseinrichtungen müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten und auf das Beste hoffen» Zwar sei die Krankheit insgesamt milde verlaufen, habe aber bei bestimmten Altersgruppen wie jungen Menschen eine überraschend hohe Sterblichkeitsrate gehabt. Weltweit sind nach offiziellen Erhebungen mindestens rund 17.000 Menschen dem neuen Virus zum Opfer gefallen, die wahren Zahlen sind nach Ansicht der Experten aber deutlich höher.
Man habe vom Umgang mit H1N1 viel gelernt und auch einige Schwachpunkte aufdecken können. Hauptkritikpunkt der Forscher: Die weltweit völlig ungleiche Verteilung von Impfstoffen. «Manche Länder hätten jeden ihrer Einwohner doppelt impfen können, während andere gar nichts zur Verfügung hatten», sagte Osterhaus. Allein in der EU habe es 27 verschiedene nationale Wege gegeben, mit der Bedrohung umzugehen - dies müsse künftig vereinheitlicht werden. Generell sei die schnell hochgefahrene Impfstoffproduktion richtig gewesen. Nach Schätzungen sind inzwischen 300 Millionen Menschen gegen H1N1 immunisiert, die befürchteten Nebenwirkungen seien so gut wie nicht eingetroffen. «Wer weiß, wie viele Leben wir damit gerettet haben», sagte Osterhaus.
Zusammen mit anderen Maßnahmen wie Aufklärungskampagnen habe das schnelle Impfen die Grippewelle in Mitteleuropa so leicht verlaufen lassen. Neue Studien beleuchten dabei auch die Rolle von sozialen Netzwerken wie
Twitter und Facebook als Frühwarnsysteme und Indikatoren für die regionale Verbreitung. Britische Forscher fanden beispielsweise innerhalb von vier Monaten mehr als eine Millionen «Tweets» (Mitteilungen) beim britischen Twitter, in denen Nutzer von Symptomen berichten. 2.900 Menschen teilten dabei ihrer Umgebung wörtlich mit: «Ich habe Schweinegrippe.»
Für die kommende Grippesaison warnen die Experten vor Nachlässigkeit. Nach dem Ausbruch einer Pandemie sei die saisonale Grippe häufig schlimmer als in den Jahren zuvor, da sie durch neues Genmaterial «gestärkt» werde. «Wir werden uns auf mehr als ein Szenario vorbereiten müssen und Wachsamkeit ist gefragt», sagte Garau. (dpa)