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22.05.2022 | 06:52 | Getreideversorgung 

Sachverständige streiten über Stilllegung

Berlin - Für nicht verantwortbar hält der Deutsche Bauernverband (DBV) ein unverändertes Festhalten an der Stilllegung von 4 % der Ackerflächen, wie sie im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ab 2023 vorgesehen ist.

Getreidebau oder Flächenstilllegung?
Hemmerling: 4 Prozent Brache nicht verantwortbar - Agrarökonom Qaim: Allenfalls temporäre Aussetzung vertretbar - Lakner und Röder: Negative Effekte überwiegen - Öffentliche Anhörung des Bundestagsernährungsausschusses zur Nahrungsmittelversorgung. (c) proplanta
Zwar räumte der stellvertretende DBV-Generalsekretär Udo Hemmerling in einer öffentlichen Anhörung des Bundestagsernährungsausschusses am Montag (16.5.) im Bundestag ein, dass der Mengeneffekt einer Aussetzung begrenzt sein werde. Gleichwohl sei es angebracht, die Einführung dieser Maßnahme zumindest zeitlich aufzuschieben, ohne jedoch gänzlich darauf zu verzichten.

Der Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn, Prof. Matin Qaim, verwies auf die wichtige Funktion von Brachflächen für die Biodiversität und sprach sich gegen einen Verzicht aus. Sinnvoll könnte aber eine temporäre Aussetzung bei gleichzeitiger Reduzierung des vorgesehenen 4 %-Satzes sein, so der Bonner Agrarökonom.

Kritisch zur Aussetzung der Stilllegung äußerten sich Dr. Norbert Röder vom Thünen-Institut für Ländliche Räume und Prof. Sebastian Lakner vom Institut für Agrarökonomie der Universität Rostock.

Weltweite Getreideversorgung knapp



Hemmerling veranschlagte den Umfang der zusätzlichen Ackerflächen für die Getreideproduktion durch einen Verzicht auf Stilllegung auf rund 200.000 ha. Ausgehend von einem Ertrag in Höhe von etwa 50 dt/ha auf diesen eher unterdurchschnittlich ertragreichen Flächen resultiere daraus eine Gesamtmenge von etwa 1 Mio. t Getreide in Deutschland.

Europaweit vervielfache sich dieser Mengeneffekt allerdings. Nach Einschätzung des stellvertretenden DBV-Generalsekretärs wird die weltweite Versorgung bei Getreide in den kommenden Jahren weiter knapp bleiben. Deutschland habe in den letzten Jahren jeweils etwa 8 Mio. t Brotweizen exportiert. Um diesen globalen Beitrag zu erhalten, brauchten die Landwirten eine sichere Düngemittelversorgung.

Im Falle eines Versorgungsnotfalles bei Gas müsse die Ernährungs- und Landwirtschaft vorrangig berücksichtigt werden. Zustimmung signalisierte Hemmerling zur Initiative des Bundeslandwirtschaftsministeriums für eine spätere Einführung des Fruchtwechselgebotes. Dabei gehe es um geschätzt 500.000 ha Stoppelweizen, die sonst fehlen würden.

Kooperativen Naturschutz fördern



Lakner betonte den Wert der Brachflächen für die Biodiversität. Um deren positiven Effekte zu stärken, sei allerdings eine koordinierte Ausweisung in der Region notwendig. Der Wissenschaftler verwies auf Möglichkeiten, die in diesem Zusammenhang ein kooperativer Naturschutz bieten könne. Das zeige das Beispiel der Niederlande.

Thünen-Wissenschaftler Röder stellte klar, dass ein Aussetzen oder der komplette Verzicht auf die Pflicht zur Stilllegung ab 2023 der Artenvielfalt schaden und nicht den ökonomisch gewünschten Erfolg bringen würde, den manche von einer solchen Maßnahme erwarteten. Keinesfalls dürften die negativen Effekte unterschätzt werden.

Einerseits seien Verbesserungen in der Biodiversität oder bei der Speicherung von Bodenkohlenstoff auf Brachflächen nur über mehrere Jahre hinweg zu erreichen. Andererseits würden Fortschritte durch die mit einer Nutzung verbundenen Eingriffe schnell zunichte gemacht. Daher sollte Röder zufolge der Sicherung bestehender Brachflächen eine hohe Priorität eingeräumt werden.

Ausbleibende Produktivitätsfortschritte als Kernproblem



ZEF-Direktor Qaim kritisierte einseitige Betrachtungen der zunehmenden globalen Ernährungsunsicherheit. „Hunger ist ein Verteilungs- und ein Mengenproblem“, sagte der Agrarökonom. Er bezeichnete ausbleibende Produktivitätsfortschritte in der Agrarproduktion als eine wesentliche Ursache des seit Jahren wachsenden Hungerproblems.

Umso dringender sei der Einsatz von Innovationen unter Einschluss gentechnischer Methoden, die zu Unrecht in Verruf gekommen seien. Keine Lösung sieht der Wissenschaftler angesichts weltweit zurückgehender Landwirtschaftsflächen in einem Vorgehen nach dem Prinzip „Chemie raus, Ökolandbau hoch“. Stattdessen müsse es darum gehen, auf kleiner werdender Produktionsflächen mehr zu produzieren, ohne ökologische Anforderungen abzusenken.

Internationalen Handel sichern



Der Direktor beim World Food Programm der Vereinten Nationen (WFP), Dr. Martin Frick, betonte die Notwendigkeit, den weltweiten Handel mit Nahrungsmitteln, Kraftstoffen und Düngemitteln aufrechtzuerhalten.

Eine Voraussetzung dafür sei die sofortige Wiedereröffnung der Schwarzmeerhäfen, damit dringend benötigte Nahrungsmittel aus der Ukraine hungernde Menschen in Ländern wie Afghanistan, Äthiopien, Südsudan, Syrien und Jemen erreichen könnten. Daneben seien betreffende Länder aufgefordert, eingelagertes Getreide zur Verfügung zu stellen.

Unbedingt vermieden werden müssten Ausfuhrbeschränkungen für wichtige Güter, um globale Nahrungsmittelpreise nicht noch weiter in die Höhe zu treiben. Schließlich gelte es, Agrarspekulationen durch mehr Transparenz entgegenzuwirken. Dazu gelte es, Initiativen wie das Agrarmarktinformationssystem (AMIS) zu stärken, um den reibungslosen Ablauf des Agrarhandels zu gewährleisten.

Mittel- und langfristig sieht Frick eine wichtige Aufgabe darin, Menschen in Entwicklungsländern dabei zu unterstützen, wieder eigenständig Nahrungsmittel anzubauen und so langfristig ihre Abhängigkeit von Importen und von Hilfslieferungen zu verringern.

Absage an Roll-Back in der Agrarpolitik



Vor einem „Roll-Back“ in der Landwirtschaftspolitik warnte Stig Tanzmann von Brot für die Welt. Zur Bekämpfung der aktuellen Hungersnöte im globalen Süden und der drohenden Engpässe wegen des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine seien „global abgestimmte Maßnahmen“ notwendig. Als wichtigste Schritte für mehr Transparenz und für mehr Nahrungsmittelsicherheit müssten Spekulationen beendet werden.

Der Referent forderte einen Rückgang der tierischen Erzeugung in Deutschland, um Flächen für den Anbau von Pflanzen zur unmittelbaren menschlichen Ernährung zu mobilisieren. Eine Absage erteilte Tanzmann der „neuen Gentechnik“. Lena Bassermann vom Inkota-Netzwerk verlangte ein Verbot von Agrarfinanzgeschäften in Krisenzeiten.
AgE
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