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17.06.2017 | 09:03 | Gesunde Ernährung 
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Trend zum Ernährungshypochonder? Von echten und gefühlten Allergien

Berlin - Beim Kindergeburtstag oder beim Kochen mit Freunden kann es ganz schön kompliziert werden: Gluten-Unverträglichkeit, Laktose-Intoleranz, Nuss-Allergie - und bitte bloß keinen Zucker. Als Reaktion auf eine Einladung folgt nicht selten eine Leidensliste der Gäste.

Allergien
Der Mensch ist, was er isst. Ernährung kann aber auch zur Mode werden. Immer mehr Menschen verzichten hierzulande auf Grundnahrungsmittel - eine rätselhafte Entwicklung. (c) proplanta
Leiden sie wirklich oder sind Lebensmittel-Zipperlein einfach nur schick geworden? Soziologen und Ernährungswissenschaftler sind sich einig, dass die Anzahl der angeblichen Probleme mit Nahrungsmitteln in Deutschland zugenommen hat. Die Frage, die sich vor dem Deutschen Lebensmittel-Allergietag am Mittwoch (21. Juni) stellt: Was steckt dahinter?

Die neue Mode treibt seltsame Blüten. Ein verzweifelter Vater kaufte für den Kindergeburtstag glutenfreie Muffins, weil er ohne Eier, Milch und Mehl keinen Kuchen backen konnte. Und manche Kochkünstler laden seltener Gäste ein, weil sie die langatmigen wer-verträgt-was-Diskussionen Leid sind. «Die Tendenz, Ernährung zu problematisieren, ist in den vergangenen Jahren eindeutig stärker geworden», sagt Jana Rückert-John, Professorin für «Soziologie des Essens» an der Hochschule Fulda. «Es gibt echte Lebensmittelallergien und Unverträglichkeiten. Aber es gibt auch einen rapiden Anstieg der gefühlten oder der behaupteten.»

Ernährungswissenschaftler und Buchautor Uwe Knop hat für Menschen, die der neuen Entwicklung folgen, einen wenig schmeichelhaften Namen: Ernährungshypochonder. Für ihn zählt dazu, wer ohne ärztliche Diagnose bestimmte Lebensmittel meidet. «Manchmal habe ich den Eindruck, Zucker ist das neue Heroin», ergänzt er spitz. Valide Zahlen zu dem neuen Trend gebe es nicht. Nur krasse Einzelfälle, die erschrecken. So starb in Belgien ein Baby, weil die Eltern ohne Diagnose eine Laktose- und Glutenintoleranz vermuteten. Sie fütterten den kleinen Jungen monatelang nur mit Flüssigkeit aus Reis, Hafer, Quinoa und Buchweizen. Das unterernährte Kind dehydrierte.

Außer Frage steht: Nüsse, Äpfel, Meeresfrüchte oder Sellerie können bei Erwachsenen gesundheitliche Probleme auslösen. «Es sind die häufigsten Allergien gegen Lebensmittel», sagt Margitta Worm, Leiterin der Hochschulambulanz der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie an der Berliner Charité. Die Folgen reichen von Hautjucken und Schwellungen bis hin zu Magen-Darm-Problemen. «Bei schweren Verläufen können es auch Luftnot und Kreislaufreaktionen sein», ergänzt Worm. Die schwerwiegendste Folge sei ein anaphylaktischer Schock - eine Extremreaktion auf ein Allergen, die tödlich enden kann.

Statistisch gesehen treffen solche Allergien allerdings nur zwei bis drei Prozent der Erwachsenen. Damit sind die Beschwerden deutlich seltener als zum Beispiel Heuschnupfen mit rund 16 Prozent. Bei Kindern liegt die Quote der Nahrungsmittelallergien mit fünf bis sechs Prozent etwas höher. Allerdings gingen zum Beispiel Milcheiweißallergien bis zur Einschulung oft wieder weg, berichtet Worm. Noch deutlich geringer sind die Werte bei einer Unverträglichkeit gegen Gluten, dem Klebeeiweiß in einigen Getreidesorten. Unter einer chronischen Erkrankung des Dünndarms (Zöliakie) litten in Deutschland 0,9 Prozent der Bevölkerung, sagt die Medizinerin.

Ein Blick auf die Auswahl glutenfreier Produkte im Supermarkt und auf die wachsenden Marktanteile von Produzenten aber lässt eine Art plötzliche Massenepidemie vermuten. «Für mich als Soziologin ist es interessant, wenn Menschen sich so beschreiben - ob sie das nun haben oder nicht», sagt Jana Rückert-John. «Es macht ganz offensichtlich etwas mit ihnen, und es geht um die Gründe dieser Selbstbeschreibung.»

Ernährungswissenschaftler Knop vermutet eine Mischung aus Profilierung und Selbstdarstellung. Und damit eine ähnliche «Ich-Inszenierung» wie sie Wissenschaftler bereits beim Veganer-Hype beobachteten: Verzicht und Abgrenzung, um interessant zu bleiben. Für John hat die neue Mode soziale Effekte. «Man findet damit Anschluss und Verbündete. Wer keine Allergie oder keine Unverträglichkeit hat, der ist heute ja fast schon irgendwie langweilig», sagt sie. Trotzdem wägt sie ab. Grundsätzlich sei es ein positiver Aspekt, wenn Menschen mehr über das Thema Essen nachdächten und redeten. «Doch es ist typisch deutsch, es so stark zu problematisieren.»

Für die Soziologin ist es die Wohlstandsgesellschaft, die den Bundesbürgern zu schaffen macht. «Es gibt eine hochgradige Unsicherheit, die mit diesem Überfluss einhergeht», sagt sie. Einmal gehe es um das Thema Gesundheit, also um all die Krankheiten, die mit Ernährung assoziiert würden. Zum anderen spielten negative Umwelteffekte eine Rolle - Tierhaltung, Flächenverbrauch, Folgen intensiver Landwirtschaft und globale Verflechtungen. «Und dann kommt der Punkt der eigenen Verantwortung dabei.» Aus dieser Unsicherheit heraus fiele dann oft eine Entscheidung: Ich beschränke mich. Weniger ist mehr.

Was weniger - das ist vielleicht gar nicht so entscheidend. Der Aufdruck «frei von» scheint für Werbestrategen im Moment attraktiv zu sein. Auf Laktose-Intoleranz, unter der maximal ein Fünftel der Bevölkerung leidet, hat der der Markt reagiert - mit Kokos-, Soja-, Reis-, Hafer-, Mandel- oder Hanfmilch.

«Das sind Phänomene einer übersättigten Wohlstandsgesellschaft, die sich die Pathologisierung von Grundnahrungsmitteln wie Milch und Getreideprodukten leisten kann», sagt Uwe Knop dazu. Für den Handel aber sei es ein gutes Geschäft. «Glutenfreie Nudeln kosten 1,55 Euro, normale Nudeln 49 Cent.»

Knop sieht im angesagten Lebensmittel-Verzicht - und dem Spott darüber - aber ein ganz neues Problem. «Die echten Allergiker leiden darunter, dass viele ihr Problem nicht mehr ernst nehmen. Das ist wie eine Desensibilierung der Gesellschaft.»
dpa
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Kommentare 
Berthold schrieb am 19.06.2017 23:57 Uhrzustimmen(21) widersprechen(28)
Zitat: «Es gibt echte Lebensmittelallergien und Unverträglichkeiten. Aber es gibt auch einen rapiden Anstieg der gefühlten oder der behaupteten.» Gibt es für letztere Behauptung Belege? Oder muss die Erwähnung eines krassen Vorfalls als Beweis reichen, dass es eingebildete Ernährungshypochonder gibt? Vielleicht sollte man einfach mal Artikel über eingebildete Schlaumeier schreiben und ein paar Behauptungen darüber aufstellen, dass mit denen etwas nicht stimmt und dazu eine neue Krankheit kreieren.

Hat eine Soziologin Ahnung von Ernährung? Und der Ernährungswissenschaftler, der hier eine Profilierung und Selbstdarstellung VERMUTET, spricht wohl eher von sich selbst?

Zuerst Theorien und Vermutungen äußern. Und das dann immer wieder, so lange, bis das "ungebildete Volk" glaubt, dass es Fakten sind. Diese Methode funktioniert schon immer gut.

Zitat: "Und damit eine ähnliche «Ich-Inszenierung» wie sie Wissenschaftler bereits beim Veganer-Hype beobachteten..." Wer sich hier selbst ständig inszeniert sind die Wissenschaftler selbst. Sie lieben es, in einen gottähnlichen Status erhoben und wegen ihrer Weisheit bestaunt zu werden. Das sieht man schon an der Anzahl der Veröffentlichungen und den ständigen Preisverleihungen, sprich Selbstbeweihräucherungen. Es vergeht doch fast kein Tag, an dem nicht irgendeiner Preisverleihung stattfindet, wo man sich gegenseitig wegen seiner Weisheit beklatscht. Das hat schon fast was Sektenartiges.

Das ganze Konstrukt hat sich mittlerweile zu einer Religion entwickelt, wo Menschen bewundert und bestaunt werden. Wer mit der Wissenschaft nicht einig geht, wird misstrauisch beäugt, als neuzeitlicher "Ketzer" angesehen. Was in der Bibel steht, wird nicht geglaubt, aber was Wissenschaftler zu Papier bringen, das soll alles glaubwürdig sein.

Dabei ist auch hier wie mit allen anderen Religionen: Man kann Behauptungen und Aussagen Glauben schenken. Man kann es aber auch lassen und seinen eigenen Verstand einschalten. Nur weil viele Buchstaben zu Papier gebracht werden, ist das noch lange kein Beweis für irgendwas.

Die Frage ist stets, von wem kommen solche Aussagen? Von wem werden diese Leute bezahlt? An wessen Tropf hängen sie? Brauchen sie viel Aufmerksamkeit und Lob? Sind sie geldgierig? Sind sie geltungssüchtig und wollen sich profilieren?

Auf die Umweltproblematik wird auch hier wieder wie so meistens nur am Rande eingegangen. Bloß nicht detaillierter drauf eingehen, sonst müsste man zugeben, dass genau hier das Problem liegt mit den zunehmenden Allergien und Unverträglichkeiten. Lieber verleugnet man die zunehmende Problematik mit den Umweltgiften, wird auch hier kreativ und erfindet Ökochonder und schiebt den Schwarzen Peter den Leidenden selbst in die Schuhe. Wie schön einfach! Und schön praktisch, kann man doch so wieder mal eine neue Krankheit aus dem Hut zaubern. So hält man die Krankheitsindustrie schön am Laufen. Sicherlich bastelt man auch hier schon an Medikamenten gegen solche sträflichen Einbildungen und sinnbefreite Laber- und Bastel-Therapien, mit denen sich ordentlich Kasse machen lässt.

Am besten kehrt ein jeder vor der eigenen Tür, bevor er mit dem Finger auf andere zeigt und über sie spottet. Von Wichtigtuern, die schlau daherreden, hat die Menschheit noch nie etwas gehabt. Sonst gäbe es auch nicht immer mehr Kranke, anstatt weniger, weil man sich das Leugnen und unter den Teppich kehren der wahren Ursachen auf die Fahne geschrieben hat.

Eine Lösung wird auch mit diesem Artikel keine aufgezeigt. Auf die körperlichen Leiden der Betroffenen wird nicht eingegangen, wie z. B. die täglichen Durchfälle, Darmkoliken, usw. aufgrund von Unverträglichkeiten. Es will einem doch wohl keiner weismachen wollen, dass Kranke sich die täglichen, mehrmaligen Durchfälle einbilden oder gern unter Darmkoliken leiden. Wer sowas behaupten sollte, der sollte sich selbst mal gründlich untersuchen lassen.

Niemand hat was von Diskriminierungen und frechen Unterstellungen. Und es wird nicht glaubwürdiger mit einem Titel auf irgendeinem Stück Papier! Dass jemand sich traut, Kranke so zu diskrimineren, gehört in die Kategorie unterlassene Hilfeleistung.

Wie wäre es, sich mit seiner "Weisheit" und all seinen Spott einfach zurückzuhalten und wenn man selbst keine Ahnung hat, wie man diese Probleme zum Wohle der Betroffenen löst, dann wenigstens nicht unglaubwürdig schlaumeiert, sondern Respekt zeigt und die Leute selbst entscheiden lässt, was ihnen guttut?
cource schrieb am 17.06.2017 09:27 Uhrzustimmen(34) widersprechen(34)
das hauptproblem unserer zeit ist, dass das systembedingte exorbitante arbeitslosenheer auch unter den akademikern, zu unseriösen gutachten/stellungnahmen, verführt, weil diese angeheuerten gutachter/experten ja auch ein einkommen nachweisen müssen und deshalb eher geneigt sind dem auftraggeber ein gefälligkeitsgutachten zu erstellen, deshalb ist es die einzig richtige methode, durch konsequentes weglassen/entzug von suchtmitteln/grundnahrungsmittel, herauszufinden ob sich ein lebenslanger totalverzicht lohnt, wesentliches indiz für den erfolg des verzichtes/entzug ist dann die gewonnene leistungssteigerung siehe vegane profisportler
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