An diesem Tag im Spätsommer wartet sie schon eine halbe Stunde länger als sonst. Deshalb macht sie sich mit ihrer kräftigen Stimme bemerkbar. Die anderen gucken bloß. Dora aber hat Termindruck: Der Euter drückt. Als ihre Bäuerin endlich kommt, über den Haaren ein Kopftuch, in der Hand einen Eimer, entspannt sich die Leitkuh, die auf der Wiese das Sagen hat.
Wie ein Hund trottet sie hinter Lina
Schimmel her. Etwas entfernt folgt das Kalb. Die Kuh mit dem roten Fell gehört einer alten Nutzviehrasse an: Angler Rind. Ihre Milch nährt eine Familie, deren Lebensentwurf ebenfalls aus einem anderen Jahrhundert stammen könnte.
Ein selbstgemachter Zaun, ein Haus wie aus dem Freilichtmuseum, eine
Scheune aus Holz, Gemüsegarten, Obstwiese, Bienenkörbe, Teich. Mit dem Fahrrad ist man in wenigen Minuten an der Ostsee. Hier, neben dem Lenorenwald im Klützer Winkel, Nordwestmecklenburg, haben die Schimmels einen Selbstversorger-Hof aufgebaut. Nur über einen Waldweg ist er zu erreichen.
«Ich will so wenig wie möglich daran teilhaben, dass diese Welt kaputtgemacht wird», sagt Lina Schimmel. Sie spricht aus, was im 21. Jahrhundert eine wachsende Zahl von Menschen bewegt. Aber möchte man gleich so radikal umsteuern?
Einfach weiter so?Nachhaltig zu leben, ist heute nicht mehr nur ein Thema für Grünen-Parteitage und Öko-Freaks: In Nachbarschaftsportalen wie «nebenan.de» bauen Großstadtbewohner längst Tauschringe auf. In Facebook- und Meetup-Gruppen tauschen sich Interessierte darüber aus, wie sich durch Teilen, Selbermachen oder Verzicht wahlweise eine bessere Welt oder ein ruhigeres Gewissen erreichen lässt - je nach Anspruch. Und auf Instagram stellen manche Influencer einen sportlich-nachhaltig-gesunden Lebensstil zur Schau.
Dabei gehe es «viel öfter darum, das Richtige zu kaufen, statt mal gar nichts», schrieb jüngst die «Süddeutsche Zeitung» kritisch über das Netzphänomen des Nachhaltigkeits-Hipsters. Doch es führt mit dazu, dass sich Unternehmen verstärkt auf Verbraucher einstellen, die wissen wollen, was genau sie konsumieren und wie es produziert wurde.
Dahinter steckt eine Frage, die sich angesichts des Klimawandels heute für viele in neuer Dringlichkeit stellt: Welchen Anteil hat der Einzelne - und was könnte ich selbst unternehmen? «Wenn ich mir die Bevölkerung anschaue, erkennen viele an, dass ein Einfach-weiter-so auf Dauer nicht gut gehen kann», sagt der Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt, 48, von der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg.
Die Schimmels haben daraus Konsequenzen gezogen - und versuchen, ihren sogenannten ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Aber geht das überhaupt im heutigen Deutschland? Welche Kompromisse sind nötig? Und: Könnte ihr Leben Modell stehen für eine bessere, weil schonender mit ihren Ressourcen umgehende Welt?
Schon vor dem Trend daIn der DDR war Steffen Schimmel Forstarbeiter. Als er Ende der 1980er das alte Bauernhaus kaufte, in dem sie heute leben, verlief die Grenze, die Deutschland in zwei Staaten teilte, gar nicht weit entfernt. Als die Schimmels nach der Wende zusammenzogen, regierte in Deutschland noch CDU-Kanzler Helmut Kohl. Man kam ohne Netzwerke wie Facebook aus,
Klimawandel war nicht das Riesenthema wie heute.
Das Draußensein und die Arbeit mit Tieren zieht Steffen Schimmel bis heute vielem anderen vor. «Ich wollte vor allem mit den Pferden arbeiten», sagt der 52-Jährige. «Und ich habe mir einen Weg gesucht, wie das geht.»
Lina Schimmel, 43, wuchs in Hamburg auf, der zweitgrößten deutschen Stadt, und damit im Westen. Schon der Vater habe die Natur geliebt, sie selbst als Schülerin vom Aussteigen geträumt, wie es manche beim Heranwachsen tun, ohne später daraus Konsequenzen zu ziehen. Bei Freunden lernten sich die beiden kennen.