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20.02.2022 | 14:05 | EU-Nitratrichtlinie 
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Ausdehnung der Roten Gebiete droht

Berlin - Auf mindestens 30 % veranschlagt die Bundesregierung die Ausdehnung der nitratbelasteten Gebiete in Deutschland, sollte die EU-Kommission dem deutschen Vorschlag einer Ausweisung dieser Roten Gebiete auf der Grundlage realer Messwerte folgen.

Rote Gebiete
Bundesregierung rechnetmit Zuwachs um mindestens 30 Prozent. (c) proplanta
Derzeit sind bundesweit rund 2 Mio. ha als Rote Gebiete ausgewiesen. Die Ausweitung ergibt sich aus den geplanten Änderungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift Gebietsabgrenzung (AVV GeA), die das federführende Bundesumweltministerium am vergangenen Freitag (18.2.) zusammen mit der auf dieser Grundlage zu erwartenden Auswirkungen auf die Flächenkulisse in den Bundesländern nach Brüssel übermittelt hat.

Ziel der Bundesregierung sei es, den Ansprüchen der EU-Kommission „unter Berücksichtigung der berechtigten Anliegen der Länder“ gerecht zu werden, „damit das laufende Vertragsverletzungsverfahrens möglichst bald beigelegt und Deutschland so vor hohen Strafzahlungen geschützt wird“, erklärten die zuständigen Bundesminister Steffi Lemke und Cem Özdemir in einem Schreiben an die Abgeordneten der Koalitonsfraktionen von SPD, Grünen und FDP.

Nordrhein-Westfalens Agrarstaatssekretär Dr. Heinrich Bottermann widersprach der Aussage, dass das neue Verfahren zur Gebietsausweisung mit den Ländern abgestimmt sei. Nordrhein-Westfalen lehne die vorgelegten Pläne für die Roten Gebiete ab und fordere weitere Verhandlungen mit der Kommission, so Bottermann in einem Schreiben an die beiden Bundesressorts. Mit scharfer Kritik reagierte der Deutsche Bauernverband (DBV). Die vorgesehene abermalige Änderung der Gebietsabgrenzung sei „das Gegenteil von Klarheit“ und führe zu massivem Unmut bei den Bauern, sagte DBV-Generalsekretär Bernhard Krüsken.

Brüsseler Unmut

Die Kritik der Brüsseler Administration war erstmals im Sommer letzten Jahres bekannt geworden, als Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius in einem Mahnschreiben an die Bundesregierung seine Bedenken gegen das Verfahren zur Ausweisung der Roten Gebiete zum Ausdruck gebracht hatte. Seither hatte es wiederholt Gespräche zwischen beiden Seiten vor allem auf Fachebene gegeben, ohne dass dabei Einvernehmen erzielt werden konnte.

Zuletzt hatte die Kommission mit einer Wiederaufnahme des Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen Nichteinhaltung der EU-Nitratrichtlinie sowie der Verhängung von Strafzahlungen in einer Größenordnung von mehr als 800.000 Euro am Tag für den Fall gedroht, dass Deutschland bis zum 18. Februar keine zufriedenstellende Antwort auf die vorgebrachte Kritik liefert.

Anlass des Brüsseler Unmuts ist die Halbierung des Umfangs der Roten Gebiete infolge der Ausweisung auf der Grundlage der im vorigen Jahr vom Bundesrat beschlossenen AVV Gebietsausweisung. Die Kritik der Kommission bezieht sich auf die sogenannte „Emissionsmodellierung“ bei der Gebietsausweisung, die sie als nicht vereinbar mit der EU-Nitratrichtlinie ablehnt.

Bund und Länder hatten sich auf die Modellierung als Grundlage für die Binnendifferenzierung der Roten Gebiete verständigt, um dem Verursacherprinzip bei der Nitratbelastung Rechnung zu tragen. Unter anderem spielen dabei die jeweils eingesetzten Düngermengen eine Rolle. Künftig soll die Binnendifferenzierung der Roten Gebiete auf der Grundlage der Nitratkonzentration in den Grundwassermessstellen erfolgen.

Nicht angemessen und nicht wirkungsvoll

Lemke und Özdemir machen in ihrem Schreiben an die Koalitionsabgeordneten darauf aufmerksam, dass die unterschiedliche Umsetzung der AVV in den Landesdüngeverordnungen im Fokus der EU-Kommission stehe, nicht jedoch die Düngeverordnung des Bundes.

Die AVV sei aus Brüsseler Sicht im Hinblick auf die reale Nitratbelastung nicht angemessen und insgesamt nicht wirkungsvoll genug, um eine signifikante Reduzierung von Nitrateinträgen zu erreichen. Die von Bund und Ländern in der letzten Legislaturperiode erarbeiteten Modelle zur Bestimmung nitratbelasteter Gebiete würden zumTeil nicht akzeptiert. Deshalb gehe es jetzt darum, so die Minister, die Allgemeine Verwaltungsvorschrift so zu verändern, „dass sieder Kritik der Europäischen Kommission Rechnung trägt“.

Die beiden Minister räumen ein, dass eine erneute Ausweisung der belasteten Gebiete für die Landwirtschaft „in einigen Regionen wieder mit Änderungen der Düngepraxis“ verbunden sein werde. Nach Auffassung der Grünen-Politiker hätte dies durch konsequenteres Handeln in der Vergangenheit verhindert werden können.

Fachlichkeit kommt abhanden

Die dem Bund übermittelten Flächenausweisungen auf der Grundlage der geforderten veränderten Bedingungen bedeuteten nicht, „dass sich das Land Nordrhein-Westfalen mit den Ergebnissen der bisherigen Beratungen einverstanden erklärt“, stellte Staatssekretär Bottermann in einem Schreiben an seine Amtskollegen im Bundeslandwirtschafts- und im Bundesumweltministerium, Silvia Bender und Stefan Tidow, klar. Seiner Auffassung nach geht mit der vorgesehenen Streichung der Modellierung aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift „das Grundgerüst der Fachlichkeit“ verloren.

Für Nordrhein-Westfalen gehörten Binnendifferenzierung und Modellierung zusammen in die Grundlage der AVV, betonte der Staatssekretär. Man halte es nach wie vor für falsch, dass die verfügbaren einzelbetrieblichen Daten zur Düngesituation in den Betrieben künftig keinerlei Berücksichtigung finden sollen, bekräftigte Bottermann und warnte davor, dass dies zu erheblichen Akzeptanzproblemen in den landwirtschaftlichen Betrieben führen werde. Der Spitzenbeamte sieht den Bund dringend gefordert, sich in den weiteren Gesprächenmit der Kommission für die Beibehaltung der bisherigen Strukturen der AVV-Gebietsausweisung einzusetzen.

Die von der Brüsseler Administration erhobenen Forderungen sind für den Staatssekretär „sehr enttäuschend“, weil sie sich im Wesentlichen darauf beschränkten, dass die ausgewiesenen Flächen „größer“ sein müssten.

Hochglanzbroschüren statt tatkräftiger Politik

Die Ampelkoalition macht indes die frühere Bundesregierung für die zu erwartenden neuerlichen Änderungen im Düngerecht verantwortlich. „Hochglanzbroschüren statt tatkräftiger Politik zum Schutz von Menschen und Umwelt war das Motto der vormaligen Landwirtschaftsministerin“, so der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Matthias Miersch.

Demgegenüber habe die SPD „in den letzten zehn Jahren“ immer wieder gefordert, die Nitratbelastung in Deutschland in den Griff zu bekommen. Dies sei jedoch mit dem damaligen Koalitionspartner „nicht umsetzbar“ gewesen. Eine „unehrliche Nach-mir-die-Sintflut-Politik der letzten Bundesregierung“ hat der stellvertretenden FDP-Fraktionsvorsitzenden Carina Konrad zufolge dazu geführt, dass nunmehr Strafzahlungen und damit erheblicher Schaden für den deutschen Steuerzahler nur in letzter Minute abgewendet werden können. Leidtragende seien aber erneut die deutschen Landwirte. In vielen Regionen müssten jetzt abermals Verschärfungen im Düngerecht umgesetzt werden. „Der Vertrauensverlust in die Agrarpolitik ist zu Recht riesig“, stellte Konrad fest.

Nur eine Übergangslösung

Aus Sicht von Konrad können die nun nach Brüssel gemeldeten Daten nur eine Übergangslösung sein. Die grünen Ministerien seien deshalb gefordert, rasch eine wirklich verursachergerechte und fachlich nachvollziehbare Ausweisung der mit Nitrat belasteten Gebiete herbeizuführen. Die FDP-Politikerin fordert eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, „die unter Hochdruck und partnerschaftlich mit der grünen Branche an verlässlichen Rahmenbedingungen arbeitet“.

Fehlender Wille der unionsgeführten Landwirtschaftsministerien ist auch für die Grünen die Ursache der aktuellen Probleme. Der Obmann der Fraktion im Bundestagsernährungsausschuss, Karl Bär, forderte, den Streit mit Brüssel endlich zu beenden und Planungssicherheit für die landwirtschaftlichen Betriebe zu schaffen. Eine zu starke Düngung in der intensiven Landwirtschaft und die Gülle aus zu großen Tierbeständen belasteten das Grundwasser. Dem wolle man beim Umbau der Tierhaltung Rechnung tragen, den es zu unterstützen gelte, so Bär.

Hart verhandeln

Demgegenüber erwartet der agrarpolitische Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Albert Stegemann, von der Bundesregierung eine harte Haltung in der Auseinandersetzung mit der Kommission. Die Regierung dürfe „nicht ohne Not und ohne ernsthaft mit der EU-Kommission zu verhandeln, die bereits beschlossenen praxisnahen und wirksamen Maßnahmen zur Nitratreduktion im Grundwasser über Bord werfen“, mahnte Stegemann. Seiner Auffassung nach würde ein nunmehr vorgesehenes Verfahren zur messstellenbasierten Binnendifferenzierung de facto zu einer Ausweitung der Roten Gebiete in den Bundesländern führen. „Der vielbeschworene Schulterschluss zwischen Bundesumweltministerium und Bundeslandwirtschaftsministerium darf sich nicht zum einseitigen Nachteil der Landwirtschaft bemerkbar machen“, warnte Stegemann.

Fachlich und wissenschaftlich nachvollziehbar

Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir müsse sich vor die Landwirte stellen und dürfe sich nicht hinter dem Bundesumweltministerium verstecken. Gegenüber der Kommission müsse der Minister deutlich machen, dass das aktuelle Verfahren der Modellierung fachlich und wissenschaftlich nachvollziehbar sei. Den Ländern gehe es bei der bisherigen Modellierung zudem nicht darum, die betroffene landwirtschaftliche Gebietskulisse zu verkleinern, sondern verursachergerechte und praxisnahe Lösungen zu finden. Das müsse auch im Vordergrund einer zielgerichteten Agrar- und Umweltpolitik der Ampel-Regierung stehen.

Hart ins Gericht ging Stegemann mit der FDP. Diese scheine in dieser für die Landwirtschaft so wichtigen Frage „völlig abgetaucht“ zu sein. Noch zu Oppositionszeiten habe die FDP-Bundestagsfraktion lautstark eine europarechtswidrige Aussetzung der Düngeverordnung gefordert. „Von dieser heißen Luft scheint aber aktuell nicht mehr viel übrig geblieben zu sein“, so der CDU-Politiker.

Kein Verständnis

„Für die Ausweisung riesiger Roter Gebiete nur auf der Basis von statistischen oder mathematischen Verfahren und vor allem ohne Berücksichtigung des Verursacherprinzips haben wir kein Verständnis“, stellte Krüsken klar. Solche weitreichenden Einschränkungen ohne Berücksichtigung wasserwirtschaftlicher Zusammenhänge seien nicht verhältnismäßig und würden vermutlich noch die Gerichte beschäftigen. Basis für eine genaue und differenzierte Gebietsabgrenzung muss dem DBV-Generalsekretär zufolge ein breites Messstellennetz sein.

„Wenn mit der neuen Gebietsabgrenzung Landwirte ungerechtfertigt in großen pauschalen Gebieten mit zusätzlichen Auflagen überzogen werden, ist dies die Verantwortung der Länder, zu wenige Messstellen für eine genaue Binnendifferenzierung eingerichtet zu haben“, so Krüsken. Eine enge räumliche Abgrenzung von Grundwasserkörpern sei wasserwirtschaftlich geboten, vermeide Übermaßregelungen und werde auch von der EU-Kommission ausdrücklich unterstützt.

An kooperativen Ansätzen festhalten

Verbände und Organisationen der sogenannten „Nitratinitiative“ forderten eine Neuausweisung der nitratbelasteten und eutrophierten Gebiete auf der Grundlage konkreter Messwerte. Ziel müsse es sein, die EU-Nitratrichtlinie konsequent umzusetzen und von der nicht EU-rechtskonformen Emissionsmodellierung Abstand zu nehmen.

Der „Nitratinitiative“ gehören unter anderem der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring (DNR), der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der World Wide Fund for Nature (WWF) Deutschland sowie der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) an. Die Verbände setzen sich eigenen Angaben zufolge für eine verpflichtende Stoffstrombilanzierung für alle landwirtschaftlichen Betriebe, eine Veröffentlichung der Gülleimporte sowie die Vorlage eines nationalen Maßnahmenkatalogs zur Eindämmung des Gülletourismus ein.

Zudem erwarten sie eine Aufnahme und Veröffentlichung der festgelegten Maßnahmen zur Verringerung der Nitrat- und Phosphatbelastungen in den dritten Bewirtschaftungsplänen zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie sowie eine Festlegung von geeigneten gewässer- und umweltverträglichen Bewirtschaftungsmaßnahmen für nitratbelastete und eutrophierte Gebiete.

„Die Nitratrichtlinie muss endlich so umgesetzt werden, dass die europarechtlichen Anforderungen erfüllt werden und die Landwirtschaft Planungssicherheit hat“, erklärte die Initiative. Dabei sollten gezielte Förderprogramme sowie kooperative Ansätze weiterhin eine wichtige Rolle spielen.

AgE
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Kommentare 
Reinhold schrieb am 21.02.2022 11:07 Uhrzustimmen(12) widersprechen(1)
Haben alle anderen EU-Staaten die gleichen Probleme mit ihren Roten Gebieten? Ich kann mir nicht vorstellen, daß z.B. Ungarn oder Rumänien das Prinzip der Roten Gebiete überhaupt kennen und wenn doch, dann mit dergleichen Akribie geprüft werden.
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