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30.07.2009 | 15:54 | Umweltschutz  

Patient Ostsee - Binnenmeer bleibt im Ökostress

Rostock/Stralsund/Greifswald - Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) will am Freitag im Rahmen seiner Sommerreise über den Greifswalder Bodden schippern.

Meereswellen
(c) proplanta
Die Wetterprognosen sind gut, und so dürfte ihm eine beschauliche Ausfahrt bevorstehen. Doch das Idyll südlich von Rügen in einem der wichtigsten Herings-Laichgebiete der Ostsee trügt. Naturschützer und Forscher fordern von Gabriel deutlich mehr Elan beim Ostsee-Schutz - und bei seinem Bemühen, die Nachbarn mit ins Boot zu holen. «Es reicht nicht, wenn nur ein Land Verbesserungen erzielt», sagt Jan Barkowski, Fachreferent beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Mecklenburg-Vorpommern. «Die Bundesregierung muss mehr Druck auf die anderen Anrainer machen.»

Obwohl Fortschritte in der Klärtechnik in den vergangenen Jahren die Schadstoffbelastung der Ostsee verringern halfen, bleibt das Binnenmeer nach Aussagen von Fachleuten im Ökostress. Als Kernproblem gilt die «Überdüngung» durch Rückstände aus der Landwirtschaft. Sogar im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft rund um Hiddensee und Zingst oder in Biosphären-Reservaten werde der steigende Nährstoffeintrag zur biochemischen Zeitbombe, befürchtet Barkowski. «Mehr Stickstoff-Verbindungen und Phosphate bedeuten mehr Algenwachstum - und nach deren Abbau weniger Sauerstoff im Wasser.» Manch tiefer gelegene Region gelte schon als «tierfreie Zone».

Wissenschaftlern treibt die Eutrophierung - die Anreicherung organischer Nährsubstanzen in Gewässern - tiefe Sorgenfalten auf die Stirn. «Das ist unter allen Umweltproblemen der Ostsee das mit Abstand gravierendste», erklärt Günther Nausch vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Rostock-Warnemünde. Bei «Punktquellen» wie städtischen Abwässern habe sich die Lage zwar gebessert, sagt der Chemiker, der für Deutschland in der 1992 gegründeten Helsinki- Kommission (HELCOM) zum Schutz der Ostsee sitzt. Bis 2008 seien 83 von 162 bedenklichen «Hot Spots» von der Landkarte verschwunden. Bei den «diffusen Quellen» - also vor allem der Agrarwirtschaft - seien die Probleme jedoch weiterhin groß.

Wegen ihrer Binnenlage ist die Ansammlung von Nähr- und Schadstoffen für die Ostsee eine besondere Bedrohung. Der Anschluss zur Nordsee über Kattegat und Skagerrak ist schmal, der Wasseraustausch gering. «Was da hineinkommt, bleibt lange drin», sagt Nausch. Gefahren berge auch der Klimawandel: «Die Wärme im Wasser kann sich nicht so verteilen, langfristig kann sich auch das Artenspektrum verändern.»

Für Fachleute ist das Menetekel einer radikalen Verschiebung der Meeres-Populationen alles andere als Panikmache. Der Leiter des Rostocker Instituts für Ostseefischerei, Cornelius Hammer, warnte bereits im Frühjahr vor einer sinkenden Fortpflanzungsrate des Herings im Greifswalder Bodden. Die von den Fischern attackierte Fangquoten-Reduzierung durch die EU sei als Vorsichtsmaßnahme gegen ein mögliches Aussterben zu rechtfertigen: «Natürlich sind minus 39 Prozent ein weitreichender Einschnitt. Er war unvermeidbar und dient der Schonung der Bestände und langfristig dem Erhalt der Fischerei.»

Was aber kann die Bundespolitik jenseits von Brüssel noch tun? «An sich haben wir schon viel erreicht», lautet das bedingte Lob Nauschs an die Adresse Gabriels. Im Herbst 2007 habe sich Deutschland zum neuen Aktionsplan im Rahmen der HELCOM bekannt. So soll bis 2020 ein «guter Zustand» bei der Nährstoff-Einleitung erreicht werden; es gibt konkrete Reduktionsziele. Doch ist den Forschern auch der Abbau von Pestiziden und Schwermetallen, der Erhalt der Artenvielfalt und die Begrenzung des immensen Schiffsverkehrs wichtig.

Die kritische Bestandsaufnahme der Wissenschaft kann den Umweltverbänden nur recht sein. Der Schutz des Binnenmeeres sei für Gabriel bisher Nebensache gewesen, klagt der Chef des WWF- Ostseebüros in Stralsund, Jochen Lamp. Eine Fläche von 70.000 bis 100.000 Quadratkilometern sei aus Sauerstoffmangel schon so gut wie «ökologisch tot», eine Verwässerung der HELCOM-Regeln müsse daher unbedingt verhindert werden. Und in der Zusammenarbeit mit Polen, Russland und Dänemark seien noch einige Fragen zu klären, meint BUND- Kollege Barkowski: «Um uns zurückzulehnen, ist es noch viel zu früh.» (dpa)
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