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28.11.2009 | 23:14 | Umweltkatastrophe 

«Katastrophe mit Ansage» - 25 Jahre nach Bhopal

Bhopal - Die stählernen Überreste der Katastrophe ragen wie ein Mahnmal in den Himmel über Bhopal.

Emissionen
(c) proplanta
Riesige Skelette, in denen seit einem Vierteljahrhundert Tanks und Rohrleitungen vor sich hin rosten. Dazwischen liegen verrotteter Isolierschaum und andere Materialen, von dem man lieber nicht wissen will, um was es sich handelt. In den Anlagen am Rand der 1,5-Millionen-Stadt hatte einst der US-Konzern Union Carbide Pflanzenschutzmittel für Indiens «Grüne Revolution» produzieren lassen - bis zum 3. Dezember 1984.

Kurz nach Mitternacht entwichen etwa 40 Tonnen hochgiftiges Methylisocyanat (MIC) aus Tank Nummer 610. Schwerer als Luft und getragen von einem Nord-Süd-Wind legte sich das giftige Gas wie ein unsichtbarer Schleier über die schlafende Metropole im Herzen des Subkontinents. Genaue Opferzahlen gibt es nicht. Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass innerhalb vom 72 Stunden etwa 8.000 Menschen grausam zu Tode kamen. Mehr als 15.000 weitere starben an Spätfolgen. Mindestens 100.000 der insgesamt 500.000 Menschen, die mit dem Gas in Berührung kamen, wurden chronisch krank.

Union Carbide - seit 2001 in Besitz des Chemieriesen Dow Chemicals - behauptet, durch Sabotage sei Wasser in den Tank gelangt, was eine verheerende Kettenreaktion ausgelöst habe. «Wenn es Sabotage war, dann vonseiten des Konzernmanagements», sagt T.R. Chouhan, der einst Ingenieur in der Unglücksfabrik war und sich heute für die Opfer engagiert. Warum? Zum einen habe das Werk von Anbeginn nicht den üblichen Sicherheitsstandards entsprochen. Zum anderen sei in den 80er Jahren weiter an den Schutzvorkehrungen gespart worden, da die Geschäfte mit Pestiziden auf MIC-Basis und der Profit zurückgingen, so der hagere Mann. «Es war eine Katastrophe mit Ansage.»

Trotz der massiven Vorwürfe betrachtet Union Carbide das «Gasleck» von Bhopal als abgeschlossenes Kapital der Firmengeschichte. Bereits 1989 hatten sich der Konzern mit der indischen Zentralregierung auf eine finanzielle Entschädigung in Höhe von 470 Millionen Dollar verständigt - abgesegnet vom Obersten Gerichtshof in Neu Delhi. Nach indischen Medienberichten erhielten bis 2004 mehr als eine halbe Million Geschädigte sowie die Familien von 15 274 Toten jeweils Einmalzahlungen in Höhe von umgerechnet wenigen hundert Euro.

Für Bürgerrechtler wie Rachna Dhingra ist das nur einer der zahlreichen Skandale der vergangenen Jahrzehnte. «Neben einer angemessenen Entschädigungen wünschen sich die Betroffenen vor allem Gerechtigkeit», sagt die junge Frau. So seien Verantwortliche wie der damalige Union-Carbide-Chef Warren Anderson bis heute nicht bestraft worden. Auch die laufenden Gerichtsverfahren zögen sich in die Länge. «Zudem fordern wir die Einsetzung einer unabhängigen Kommission, die sich Aspekten wie der langfristigen Rehabilitierung der Betroffenen, Opferrenten sowie der Reinigung des Fabrikgeländes annimmt», so Dhingra. «Denn die Menschen in Bhopal wollen endlich in Würde leben.»

Besonders die giftigen Altlasten stellen Anwohner seit Jahren vor neue Probleme. Ingenieur Chouhan deutet auf eine Brache neben den Stahlruinen. Es stinkt penetrant. «Riechen Sie es?», fragt er. «Nach der Werksschließung hat das Management riesige Mengen von Chemieabfällen einfach vergraben lassen, die nun Boden und Grundwasser verseuchen.» Mehr als 20 wilde Deponien soll es geben.

«Die Folgen sind fatal», weiß Rachna Dhingra, «denn Tausende müssen das vergiftete Wasser trinken». Vor allem in den Vierteln nahe der Fabrik kämen zehnmal mehr Kinder mit Geburtsfehlern auf die Welt als im indischen Durchschnitt. Auch Erwachsene klagten über schwere gesundheitliche Probleme. Selbst in der Milch von Kühen, die auf dem Fabrikgelände grasen, seien Chemikalien nachgewiesen worden. Doch davor verschließe die Politik die Augen, klagt die Aktivistin.

Anlässlich des 25. Jahrestages der Katastrophe und zum Entsetzen der Bürgerrechtler plant die Regierung des Bundesstaates Madhya Pradesh, dessen Hauptstadt Bhopal ist, nun sogar das Werksgelände für Besucher zu öffnen. So sollten in der Bevölkerung «Missverständnisse» über die angebliche Gefahren durch Chemieabfälle ausgeräumt werden, verkündete der zuständige Minister Anfang November.

Rachna Dhingra entgegnet: «Das Gelände ist nicht sicher. In mehr als zehn Studien wurden hochgiftige Stoffe im Boden und der Umwelt nachgewiesen, darunter Quecksilber, Blei, Chlorbenzol und andere Pestizid-Rückstände.» Mit dieser Politik der Verdrängung wolle die Regierung vielmehr einen Schlussstrich unter die Katastrophe ziehen und sich ihren Verpflichtungen gegenüber den Opfern entziehen. «Doch wir werden den Kampf für Gerechtigkeit fortsetzen.» (dpa)
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