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02.09.2022 | 15:57 | Großbritannien 

Geht Klimaschutz mit Boris Johnson?

Glasgow / Cheltenham - Wenn es dem scheidenden britischen Premier Boris Johnson an einem nicht mangelt, dann an wortgewaltigen Visionen.

Großbritannien
Klimaneutral bis 2050 - dieses Ziel hat sich die britische Regierung gesetzt. Doch im Wahlkampf um die Nachfolge des scheidenden Premiers Johnson senden die Kandidaten zweifelhafte Signale. Wird Großbritannien beim Klima vom selbsternannten Vorreiter zum Sorgenkind? (c) proplanta
Zum «Saudi-Arabien der Windkraft» solle das Vereinigte Königreich werden, versprach er kühn und ließ sich vor Rotorenblättern ablichten. Als Gastgeber des Weltklimagipfels setzte er sein Land im vergangenen Jahr als Vorreiter beim Schutz des Planeten in Szene und appellierte an die Weltgemeinschaft: «Lasst uns diese Bombe entschärfen.»

Nicht einmal zwölf Monate sind seitdem vergangen - und doch klingen die Worte wie aus einer anderen Ära. Der Wind hat sich gedreht und Johnson nicht mehr viel zu sagen. Nicht nur bremsen die teuren Folgen des Ukraine-Krieges vielerorts die drängende Klimapolitik aus.

Die voraussichtliche Nachfolgerin von Boris Johnson, die erzkonservative Liz Truss, hat mit der Eindämmung der Klimakrise nicht viel im Sinn, wenn man ihren Äußerungen im innerparteilichen Wahlkampf glaubt.

Es mache sie traurig, wenn sie an Feldern vorbeifahre, auf denen Getreide wachsen könne, die aber mit Solarfarmen zugebaut seien, erzählt sie etwa bei einem Besuch im südenglischen Cheltenham. Der Einwand eines Parteimitglieds, dass dort wegen der Dürre womöglich bald überhaupt nichts mehr wachsen werde, irritiert sie kaum. Fracking? Ja. Neue Ölvorhaben in der Nordsee? Ja. Grüne Abgaben? Weg damit. Soweit die bisherigen Ankündigungen von Truss.

Um Boris Johnson zu beerben galt es zuletzt, die bis zu 200.000 Mitglieder der Tory-Partei zu überzeugen, die mehrheitlich älter, wohlhabender, weißer und männlicher ist als der Durchschnitt der britischen Bevölkerung. Witze über Extinction-Rebellion-Demonstranten kommen bei diesem Klientel besser an als Ausbaupläne für Windparks.

Oft seien die Mitglieder sehr ideologisch getrieben, sagt Peter Chalkley von der Denkfabrik Energy and Climate Intelligence Unit im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. «Viele von ihnen haben nicht verstanden, was «Net Zero» bedeutet.»

Unter den Abgeordneten der Tory-Partei hat sich «Net Zero», also Großbritanniens gesetzlich verankertes Ziel, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden, zum Zankapfel entwickelt. Eine rund 20 Köpfe starke Gruppe von konservativen Hinterbänklern hat sich zur sogenannten Net Zero Scrutiny Group zusammengeschlossen. Ihr Ziel: die Klimapolitik ausbremsen oder sogar verhindern. Statt dem russischen Angriffskrieg machen sie die Energiewende für die explodierenden Preise verantwortlich. Manche fordern gar, ein Referendum über «Net Zero» abzuhalten.

Sam Hall vom sogenannten Conservative Environment Network steht auf der anderen Seite. Sein Netzwerk hat gut 130 Hinterbänkler der Tory-Fraktion - etwa die Hälfte - auf seiner Seite und schlägt der Regierung konkrete klimapolitische Maßnahmen vor, wie etwa die verstärkte Isolierung von Gebäuden.

«Ich denke nicht, dass ein Referendum über «Net Zero» ernsthaft zur Debatte steht», sagt er im dpa-Interview. Die Briten hätten spätestens seit dem Brexit genug von Volksabstimmungen, außerdem gebe es in der Bevölkerung eine klare Mehrheit für die Klimaziele. Einer Umfrage des Conservative Environment Networks zufolge gilt dieser Rückhalt auch dann noch, wenn man nur die Wählerinnen und Wähler der Tory-Partei befragt.

Die Organisation Climate Action Tracker, die internationale Maßnahmen und Ziele vergleicht, stufte die britische Klimapolitik zuletzt (Stand: November 2021) als «fast ausreichend» ein. Zum Vergleich: Deutschland wird auch unter der neuen Ampel-Regierung (Stand: Juni 2022) als «unzureichend» bewertet. Kohlestrom spielt in Großbritannien schon fast keine Rolle mehr, dafür setzen die Briten stark auf Atomstrom.

Der Anteil erneuerbarer Energien lag im ersten Quartal dieses Jahres bei über 45 Prozent. Katastrophal hingegen steht Großbritannien bei der Dämmung von Gebäuden da. Einfach verglaste, zugige Fenster sind noch immer weit verbreitet.

Experte Chalkley von der Energy and Climate Intelligence Unit geht davon aus, dass die Energiewende trotz widersprüchlicher Signale aus von den Tories nicht mehr aufzuhalten ist. «Man kann langfristig laufende Verträge für Windparks nicht einfach aufkündigen», meint er. Außerdem spreche die Dynamik des Marktes für sich: Strom aus Wind und Sonne nütze nicht nur dem Klima, sondern sei auch zur günstigsten Energiequelle geworden.

«Wind ist heute neunmal günstiger als Gas», betont der aus dem Amt scheidende Boris Johnson gleich mehrfach, als er am Donnerstag an der englischen Ostküste Gelder für ein neues Kernkraftwerk zusagt. Vor einigen Jahren machte er sich als Kolumnist noch über «Ökos» lustig, nun nutzt Johnson seine letzten Tage im Amt, um seine Nachfolge in der Downing Street auf den grünen Pfad zu bringen. Sein Kabinettskollege Alok Sharma reist derweil um die Welt. Bis November hat er noch das Amt des Weltklimagipfel-Präsidenten - mit der Mission, andere zu ambitionierterem Handeln zu überreden.
dpa
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