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07.09.2008 | 07:00 | Bio-Lebensmittel 

Klassik-Konzerte für Wurst - Modellprojekt ist Experten ein Rätsel

Fulda - Üblicherweise spielen die «Fuldaer Stadtstreicher» bei ihren Auftritten vor lebendigem Publikum. Ein bis zweimal pro Monat begeben sich die vier jungen Musiker aus Osthessen jedoch sonntags in eine Fabrik.

Klassik-Konzerte für Wurst
(c) proplanta
Dann ziehen sie der Hygiene wegen weiße Schutzkleidung an, packen ihre Instrumente aus und bearbeiten mit Inbrunst die Saiten. Applaus dürfen sie aber nicht erwarten: Das Quartett spielt für Wurstwaren. Das Auditorium besteht zum Beispiel aus Blutwurst und diversen Schinken-Sorten, die auf Rollwagen vor sich hin reifen und trocknen.

Unter dem Einfluss von klassischer Musik soll dieser Prozess besser vonstattengehen. Davon ist Wolfgang Gutberlet überzeugt. Er ist der Chef der in Fulda ansässigen, auf Bio-Lebensmittel spezialisierten Supermarktkette tegut - und griff die Idee zu dem unkonventionellen Modellprojekt auf.

«Es mag spektakulär wirken. Aber wir haben schon immer versucht, neue Wege zu gehen. Als wir damals mit Bio angefangen haben, haben auch viele Leute mit dem Kopf geschüttelt. Wir halten das gut aus, sollten wir belächelt werden», sagt der bekennende Technik-Fan Gutberlet, der im vergangenen Jahr als deutscher Unternehmer des Jahres in der Sparte Handel ausgezeichnet wurde. Die Handelskette tegut, die in Hessen, Thüringen, Bayern und Niedersachsen vertreten ist, hat heute mehr als 300 Supermärkte, knapp 6.200 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Euro.

In der Vergangenheit wurden bereits im In- und Ausland Weinberge mit Musik beschallt, um einen womöglich besseren Tropfen zu gewinnen. «Ob das schon andere bei Wurst gemacht haben, habe ich nicht erforscht», sagt Gutberlet. Er habe aber von vielen Versuchen gelesen, die bestätigten, dass klassische Musik Wachstum beeinflussen könne. Ob diese Klänge auch den Reifeprozess der beschallten Wurst fördern, kann er nicht belegen. «Wir können das nicht physikalisch oder sonst wie messen», stellt der tegut-Chef klar. Seine Mitarbeiter in der wohl musikalischsten Wurstfabrik Deutschlands sollten viel mehr darauf achten, «durch Anschauen, Riechen und Anfassen zu prüfen, ob der Prozess zum Erfolg führt». Das sei eine «rein subjektive Wahrnehmung».

Klassische Konzerte für bessere Wurstreifung - das sei eine «obskure Geschichte», findet der Leiter für Sicherheit und Qualität bei Fleisch am Max-Rubner-Institut im fränkischen Kulmbach, Prof. Klaus Troeger. «Ich sehe da keinen Zusammenhang. Das ist für mich nicht erklärlich.» Obgleich es möglich sei, dass Schallwellen physikalische und chemische Prozesse auslösen können. Bei Kühen sei zum Beispiel bekannt, dass sie mehr Milch geben, wenn sie mit Klassik verwöhnt werden - wegen einer verstärkten Hormon-Ausschüttung.

Auch ein anderer Experte kann sich für das von tegut angestrebte Phänomen «keine naturwissenschaftliche Erklärung zusammenreimen». Prof. Friedrich-Karl Lücke vom Fachbereich Oecotrophologie an der Hochschule Fulda sagt: «Mir ist diesbezüglich kein Effekt auf Mikroorganismen bekannt.» Um dies zu erklären, bedürfte es Forschungen mit größerem Aufwand. Lücke, der Mikrobiologie und Lebensmittel-Technologie lehrt, will die Arbeit im Wurstwerk aber nicht als Hirngespinst abtun. In der Homöopathie sei auch nicht alles erklär- und belegbar.

Wurst-Liebhaber und tegut-Chef Wolfgang Gutberlet verlegt sich ebenso wie einer der Musiker auf den Geschmackstest. «Der Schinken schmeckt sehr gut, und wir hoffen, dazu einen Teil beitragen zu können», sagt Karsten Aßmann, der mit drei weiteren Freizeit-Musikern seit 2006 die Wurst-Konzerte gibt und dabei die zweite Geige spielt. Der 30 Jahre alte Rechtsanwalt gibt zu: «Am Anfang war es ungewöhnlich, vor Fleischwaren zu spielen. Das ist für uns Neuland. Aber wir verfolgen das Projekt mit Interesse.»

Mit seinen Mit-Streichern gibt der Musiker vorzugsweise Mozart und Bach bei den mehrstündigen Auftritten. Das soll aufgrund der perfekten Kompositionen besonders vorteilhaft sein. tegut-Chef Gutberlet sagt, Klassik-Musik habe im Lauf der Jahrhunderte der natürlichen Auslese getrotzt und sich bis heute gehalten. Deswegen lässt er keine Rock- oder Technomusik an seine Würste ran. Die seien nämlich sehr empfindlich.

Verwundert und begeistert hat Musiker Aßmann die besonders gute Akustik in der Fleisch-Halle: «Die ist vergleichbar mit einer Kirche.» Teurer ist die Wurst der Marke «Rhöngut» trotz des edlen Unterhaltungsprogramms für den Verbraucher angeblich nicht. Ein Hinweis auf die Sonderbehandlung fehlt auf den Verpackungen. «Wir würden nie mit so etwas werben», wehrt Gutberlet ab. «Es wäre wohl auch schwierig, das der Allgemeinheit verständlich zu machen, sagt eine Unternehmenssprecherin. (dpa)
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