Nur die wenigsten Fischarten können Europas Verbraucher noch guten Gewissens genießen. 88 Prozent der Bestände in Europa sind überfischt, gegenüber einem globalen Schnitt von einem Viertel. Jetzt sagt die Europäische Kommission dem «Teufelskreis» aus immer mehr technisch hochgerüsteten und subventionierten Schiffen und immer weniger Fischen den Kampf an. EU-Fischereikommissar Joe Borg legte am Mittwoch in Brüssel ein erstes Strategiepapier für eine umfassende Reform der gemeinsamen EU-Fischereipolitik vor. «Ich verspreche, ohne Tabus jeden Stein umzudrehen.»
Darin fordert der Malteser eine massive Reduzierung von Flotten und Beifängen, ein Ende der Subventionspolitik - etwa billiges Kerosin - und mehr Verantwortungsbewusstsein der 27 Mitgliedstaaten. So würden derzeit nicht nur Beschlüsse zu kurzsichtig gefasst. Es fehle auch der «politische Wille», bestehende Beschränkungen durchzusetzen. Gleichzeitig will Borg die Industrie mehr in die Pflicht nehmen, und zwar über ein freieres Spiel der Marktkräfte. Umweltschützer forderten eine rasche Umsetzung der Vorschläge.
In der EU bewirtschaften die Mitgliedstaaten die Fischbestände grundsätzlich gemeinsam. Dazu legen die EU-Agrarminister jährlich gegen Ende des Jahres Fangquoten für jedes EU-Land fest, die dann auf nationaler Ebene an die Flotten verteilt werden. Dabei überschreiten die Minister die Empfehlungen von
EU-Kommission und Wissenschaftlern aber regelmäßig massiv. Besonders große Fischereinationen wie Frankreich und Spanien beharren auf historisch hohen Quoten.
In einem ersten wichtigen Reformschritt beschloss die EU 2002, gefährdete Fischbestände wie den Kabeljau mit mehrjährigen «Management-Plänen» zu schonen. Jetzt kündigte Borg an, von 2013 an solle ein radikal anderes Regelwerk gelten. Sonst drohten «halb leergefischte Meere und eine unrentable Fischereiwirtschaft».
Im Zentrum der Kritik: Die völlig überdimensionierte europäische Fangflotte. Die Überkapazitäten gefährdeten nicht nur die Bestände, sondern seien auch ineffizient, da sie die Gewinne der Fischereiwirtschaft fortwährend verringerten, kritisiert die Kommission. So würden einige Bestände bis zu drei Mal mehr gefischt als verkraftbar. Zudem führen die meisten der europäischen Flotten Verluste oder zumindest nur geringe Profite ein.
Eine mögliche Abhilfe können nach Ansicht von Borg die in der EU kontrovers diskutierten sogenannten individuell übertragbaren - also frei handelbaren - Fangrechte (Individual Transferable Quotas, ITQ) sein. Befürworter argumentieren, dass die Industrie so mehr zur Verantwortung gezogen werden könnte und Anreize für mehr
Nachhaltigkeit erhielte. Kritiker verweisen auf die Gefahr, dass größere Unternehmen kleineren die Fangrechte abkaufen könnten. Borg sagte zu, dass es Sonderregelungen zum Schutz der kleinen Küstenfischerei geben müsse.
Die Umweltorganisation
WWF (World Wide Fund for Nature) lobte das Papier als mutig. Es zeige «die skandalösen Missstände innerhalb dieser Industrie» auf. Bei einer zügigen und umfassenden Reform halte der WWF «eine Umstellung auf eine zukunftsfähige, nachhaltige und profitable Fischerei in Europa noch immer für möglich», betonte WWF- Expertin Karoline Schacht. Dagegen forderte
Greenpeace weitergehende Schritte wie ein Verbot von Fangquoten, die über die wissenschaftlichen Empfehlungen hinausgehen, sowie Fangverbote in sensiblen Bereichen wie Laichgebieten. Die EU müsse ihre Fangkapazitäten halbieren.
Die EU-Kommission erwartet jetzt bis Ende des Jahres Vorschläge aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Anfang 2011 will sie Mitgliedstaaten und EU-Parlament Gesetzesvorschläge vorlegen. (dpa)