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22.03.2023 | 09:20 | Chemikalien-Verbot 

Umweltschutz in neuer Dimension: Riesiger Substanzgruppe droht Verbot

Berlin - Es ist ein bislang einmaliger Vorstoß: In der EU soll eine Chemikaliengruppe mit geschätzt mehr als 10.000 einzelnen Substanzen weitgehend verboten werden. 

Gefährliche Chemikalien
In der EU könnte bald eine riesige Gruppe von Chemikalien verboten sein. Es geht um den Schutz von Umwelt und Gesundheit. Die Industrie hält wenig von dem Schritt. Streit ist vorprogrammiert. (c) Olivier - fotolia.com
Die Stoffe - abgekürzt PFAS genannt - finden sich in Alltagsgegenständen wie Anoraks, Pfannen und Kosmetik. Sie sind aber auch Teil von Industrieprozessen und technischen Anwendungen. Das extrem breite Verbot wäre auch deshalb besonders, weil nur für relativ wenige der Substanzen direkt nachgewiesen ist, dass sie eine Gefahr darstellen. Wegen der enormen Vielfalt an Verbindungen ist ein Großteil der Stoffe bislang noch nicht untersucht. Es geht also um eine Art Vorsichtsmaßnahme

Das grundlegende Verbot sei notwendig für den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, wo sich die extrem langlebigen Chemikalien immer weiter anreichern, sagen die Initiatoren. Die Industrie hält den Schritt hingegen für unverhältnismäßig. Am 22. März starten dazu öffentliche, sechsmonatige Konsultationen, wie die EU-Chemikalienagentur (ECHA) mitteilte. Die Entscheidung trifft am Ende die Europäische Kommission gemeinsam mit den EU-Mitgliedsstaaten.

Besondere Moleküle

Bei dem geplanten Verbot geht es um die Stoffgruppe der sogenannten per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS). Diese Chemikalien kommen nicht natürlich in der Umwelt vor. PFAS werden auch als Ewigkeitschemikalien bezeichnet. «Je nach Stoff überdauern sie mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte in der Umwelt», sagte Wiebke Drost, PFAS-Expertin beim Umweltbundesamt (Uba), kürzlich der Deutschen Presse-Agentur. Das Uba ist an dem Vorstoß beteiligt.

Begehrte Eigenschaften

Aufgrund ihrer einzigartigen Merkmale werden PFAS heute in einer Vielzahl vor allem industrieller Produkte verwendet, wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einem Positionspapier aus dem Jahr 2021 schreibt. Die Stoffe seien chemisch stabil, auch große Hitze mache ihnen nichts aus. Zudem haben sie eine sehr niedrige Oberflächenspannung und sind dadurch sowohl öl- als auch wasserabweisend. Ferner gelten sie als sehr belastbar.

PFAS in der Umwelt

PFAS gelangen laut Uba beispielsweise durch die Abluft von Industriebetrieben in Böden und Gewässer. Da die Substanzen auch in Alltagsprodukten enthalten sind, treten sie laut Uba auch in der Raumluft auf. Im vergangenen Jahr ergab eine Studie, dass PFAS selbst in den entlegensten Weltregionen im Regenwasser nachweisbar sind. «Mit der Aufnahme von PFAS aus verunreinigten Böden und Wasser in Pflanzen und der Anreicherung in Fischen werden diese Stoffe auch in die menschliche Nahrungskette aufgenommen», schreibt das Uba.

Die Gefahr

Einige PFAS sind bereits weitgehend verboten, weil sie als gefährlich gelten. «Von den relativ wenigen gut untersuchten PFAS gelten die meisten als mittel- bis hochtoxisch, vor allem für die Entwicklung von Kindern», schreibt die Europäische Umweltagentur (EEA). Besonders bekannt sind Perfluoroktansäure (PFOA) und Perfluoroktansulfonsäure (PFOS). Studien ließen darauf schließen, dass PFOS und PFOA unter anderem eine verringerte Antikörperantwort auf Impfungen bewirken können, schreibt das Uba auf seiner Webseite. Zudem gebe es «eindeutige Hinweise» auf einen Zusammenhang zu erhöhten Serumspiegeln von Cholesterin. Laut EEA werden PFOA und PFOS auch mit Leberschäden sowie Nieren- und Hodenkrebs in Verbindung gebracht.

Das Risiko

Von den allermeisten PFAS weiß man nicht, wie sie auf Mensch und Umwelt wirken. Viele Fachleute gehen aber davon aus, dass zumindest ein Teil negative Eigenschaften hat. «Es gibt Hinweise, dass auch andere PFAS gefährlich sind», sagte Uba-Expertin Drost. Sie sieht den Bedarf, schnell zu handeln. «Wenn wir darauf warten, bis die Toxizität für jeden einzelnen Stoff nachgewiesen ist, kann es zu spät sein.» Schließlich reicherten sich die PFAS in der Umwelt an und seien dort nicht oder kaum mehr herauszubekommen.

Der Vorstoß

Ein Problem bislang: Wird eine einzelne Substanz verboten, kann die Industrie sie durch einen ähnlichen, noch nicht regulierten Stoff ersetzen. Dieser kann aber genauso gefährlich oder gar gefährlicher sein als die ursprüngliche Substanz. Deshalb haben Behörden aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Norwegen und Schweden vorgeschlagen, die Herstellung, Verwendung und das Inverkehrbringen von PFAS fast komplett zu verbieten. Der Vorschlag sieht je nach Anwendung verschiedene Übergangsfristen von bis zu dreizehneinhalb Jahren vor. Für einige wenige Bereiche gäbe es unbegrenzte Ausnahmen.

Kritik

Die Industrie sieht den Vorstoß sehr kritisch. «Ein umfassendes Verbot der PFAS hätte erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Industrie und deren Innovationsfähigkeit», sagte Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BDI, der dpa. Viele Branchen hätten in den vergangenen Jahren PFAS durch andere Substanzen ersetzt. Das sei aber nicht in allen Bereichen möglich. Insbesondere in Industrieanlagen und bei Technologien wie der Herstellung von Brennstoffzellen, Halbleitern oder Lithium-Ionen-Batterien sei man auch in Zukunft auf PFAS angewiesen. Ein komplettes PFAS-Verbot ginge aus Löschs Sicht zu weit: «Weil dann auch viele Anwendungen untersagt wären, von denen gar keine Gefahr ausgeht und die in der Industrie dringend benötigt werden.» 

Die Industrie sortiert sich noch

Was für Folgen könnte es geben? Derzeit werde in den Branchen noch geprüft, welche Auswirkungen das angestrebte Verbot hätte, sagte Lösch. Eine erste Bewertung zeige, dass viele PFAS-Verwendungen in Europa nicht mehr möglich wären. Und auch bei Produkten und Anwendungen, für die es Ausnahmen gibt, würde die Abhängigkeit von Lieferketten außerhalb der EU zunehmen. Das gefährde den Erfolg der zahlreichen Strategien, mit denen die Unternehmen ihre Abhängigkeit von Absatz- und Beschaffungsmärkten verringern wollen.
dpa
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