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03.12.2011 | 15:42 | EHEC-Krise 

Panik und Puzzlestücke: Das EHEC-Rätsel und seine Lösung

Berlin/Hamburg - Die EHEC-Epidemie in diesem Frühsommer kommt wie ein böser Spuk. Kerngesunde Menschen liegen plötzlich auf der Intensivstation.

Gurken
(c) proplanta
53 von ihnen überleben die Attacke des aggressiven Lebensmittel-Keims nicht, Dutzende spüren die Folgen bis heute. Drei lange Wochen hat es gedauert, die Ursache für den größten bekannten EHEC-Ausbruch in Deutschland zu finden: frische Sprossen.

Ihre Spur führt über Bockshornkleesamen bis nach Ägypten. Keime wie EHEC sind «Global Player» geworden - auch das macht sie so tückisch.

Wochenlang herrscht in Deutschland EHEC-Panik, sogar Touristen stecken sich an. «Auch wenn das am Anfang als eine sehr lange Zeit erschien. Im Vergleich zu früheren großen Ausbrüchen weltweit kann sich das Tempo der Aufklärung sehen lassen», bilanziert Christina Frank, Expertin am Berliner Robert-Koch-Institut (RKI). Und doch offenbarten sich Lücken, vor allem in Behördenstrukturen. Die politische Aufarbeitung läuft. Das Meldesystem soll schneller werden, Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) will auch die Lebensmittelüberwachung neu organisieren. EHEC hinterlässt Spuren.

Am schwersten vom Ausbruch betroffen war Hamburg. Niemand rechnete hier mit einer solchen Krise. «Man war überhaupt nicht vorbereitet», erinnert sich Friedrich Hagenmüller, Chefarzt an der Asklepios Klinik in Hamburg-Altona. In die Notaufnahme kommen pausenlos Patienten mit Durchfall. Sie brauchen Betten. Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) diagnostizieren Ärzte allein bei 137 Erwachsenen das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS), die schwerste Form einer EHEC-Infektion mit Nierenversagen und Nervenleiden.

Experten suchen immer verzweifelter nach der Ursache. Warum erkranken vor allem Frauen, die sich gesund ernähren? Was haben sie nur gegessen, wo ist der gemeinsame Nenner? Die Fachleute vom RKI erfahren erst am 19. Mai von HUS in Hamburg - mehr als zehn Tage nach dem Beginn der Probleme. Das Unverständnis über die deutsche Föderalismus-Bürokratie wächst.

Auch die Nervosität nimmt zu. Wo kommt dieser Keim her? Mitten in dieser schwierigen Lage erweist sich der erste Lebensmittel-Verdacht auch noch als Irrtum mit weitreichenden Folgen. Das RKI warnt am 22. Mai vor Tomaten, Gurken und frischem Salat. Denn alle Kranken haben Salat gegessen. Dies scheint der gemeinsame Nenner zu sein. Der Absatz von frischem Gemüse bricht nach dieser Warnung dramatisch ein. Die Angst vor wirtschaftlichem Verlust in Millionenhöhe überlagert die Not der Patienten.

Das RKI hält seine Warnung noch heute für berechtigt und notwendig. «Wir hatten einen starken Hinweis auf einen Zusammenhang. Auf so einer Information kann man nicht sitzenbleiben», sagt Frank, RKI-Expertin für Magen- und Darminfektionen. «In dieser Zeit infizieren sich möglicherweise noch mehr Menschen.»

In den Hamburger Kliniken sind Ärzte und Pflegepersonal bald am Rand ihrer Kräfte. Und doch bleibt die Epidemie rätselhaft. «Es gab kein Lehrbuchwissen», sagt Chefarzt Hagenmüller. Die Ärzte probieren verschiedene Therapien aus, es wirkt wie ein Blindflug. Patienten liegen hilflos im Bett; viele haben Todesangst.

Forscher enttarnen in der Zwischenzeit den EHEC-Keim, es ist eine aggressive Gen-Kombination aus zwei Bakterienstämmen mit Namen O104:H4. Auch die Lebensmittel-Fahnder kreisen ihren «Feind» immer weiter ein. Wie Krimi-Detektive interviewen sie erkrankte Restaurantbesucher, schnüffeln in den Rezeptsammlungen von Großküchen und werten Fotos von Familienfeiern aus: glückliche Menschen vor gefüllten Tellern. Die heiße Spur führt schließlich zu einem Bio-Hof im niedersächsischen Bienenbüttel, der auch Sprossen züchtet. Er hatte Bockshornkleesamen aus Ägypten über Zwischenhändler bezogen.

Der größte Teil des Rätsels ist damit gelöst. Tomaten, Gurken und Salat werden sofort rehabilitiert. Die Panik ebbt ab, Neuinfektionen gehen stark zurück. Der wirtschaftliche Schaden lässt sich bald in Zahlen fassen. Die Europäische Union zahlt Landwirten noch im Sommer 227 Millionen Euro Entschädigung.

Für Ärzte, Forscher und Patienten ist EHEC aber noch nicht vorbei. Erst Mitte November kann Rolf Stahl, Nierenspezialist am UKE, eine Zwischenbilanz bei der HUS-Behandlung ziehen: Die Antikörpertherapie wirkt, der Rest nicht. Bis heute kommen mehr als 100 Patienten regelmäßig zur Nachuntersuchung. 10 bis 15 Prozent haben leichte Schäden zurückbehalten. In der Asklepios Klinik in Hamburg-Altona leiden noch rund 20 Prozent der HUS-Patienten unter hohem Blutdruck, Bewegungsstörungen, Bauchbeschwerden oder Konzentrationsproblemen. «Vieles wird bleiben», mutmaßt Chefarzt Hagenmüller.

Und so ganz wird der Spuk nie vorbei sein. «Dieser EHEC-Ausbruch zeigt, dass so etwas auch wieder passieren kann», sagt RKI-Expertin Frank. «Wir sollten uns darauf einrichten, dass wir alle paar Jahre, zumindest aber alle paar Dutzend Jahre, mit einem neuen wichtigen EHEC-Stamm rechnen müssen.» Das Bundesinstitut für Risikobewertung mahnt deshalb mehr Forschungsbedarf an. Denn der Nachweis von EHEC ist immer noch sehr schwierig - und damit auch die Enttarnung der nächsten Angreifer von der Keim-Front. (dpa)
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