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18.04.2010 | 15:00 | Klebeschinken 

Aigner: Klebeschinken «Armutszeugnis» für Wirtschaft

Berlin/Münster - Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) sieht im sogenannten Klebeschinken und anderen Lebensmittel-Imitaten «ein Armutszeugnis» für die deutsche Ernährungsindustrie.

Aigner: Klebeschinken «Armutszeugnis» für Wirtschaft

«Es muss ein Selbstreinigungsprozess in der Wirtschaft zustande kommen», sagte Aigner am Donnerstagabend in Münster. Sie prangerte den mit Hilfe von Enzymen zusammengesetzten Klebeschinken erneut als «Verbrauchertäuschung» an. «Das ist auch ein Produktionsnachteil für Firmen, die redlich produzieren.» Aigner sprach sich für eine Kennzeichnung aus. Auch roher zusammengesetzter Schinken solle als «Formfleisch» zu erkennen sein.

Die Bauern befürchten ebenfalls einen Imageschaden. «Die deutschen Bauern stehen für Klarheit und Wahrheit bei der Lebensmittelerzeugung», erklärte der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, Helmut Born, in Berlin. Deshalb hätten sie kein Verständnis dafür, wenn es durch Imitate, Fälschungen oder fehlende Kennzeichnung zu einem Imageschaden für die Lebensmittelqualität komme. Die Grünen im Bundestag forderten ein Verbot, Schinkenteile zusammenzukleben.    

Bei Klebeschinken geht es um den Verdacht, dass mehrere Hersteller Teile von rohem Schinken mit Hilfe von Enzymen zusammensetzen, dies aber nicht kennzeichnen. Die ARD hatte über Fälle von «Klebeschinken» berichtet. Aigner und der Bauernverband machen den Preiskampf im Lebensmitteleinzelhandel dafür verantwortlich. Das Bundesverbraucherministerium kritisiert, dass die Konsumenten bei dem Schinken getäuscht würden. Das Zusammensetzen kann allerdings je nach Größe zulässig sein, zumindest nach den Leitsätzen im Deutschen Lebensmittelbuch.

Die Grünen im Bundestag werfen der Bundesregierung vor, zu wenig zu unternehmen. «Statt politische Verantwortung wahrzunehmen, erhebt Aigner bloß drohend den Zeigefinger», kritisierte Ernährungsexpertin Ulrike Höfken. Sie fordert eine Änderung des Lebensmittelrechts, um das Verkleben von Fleischstücken mit Enzymen zu verbieten. Die Lebensmittelwirtschaft äußerte sich zunächst nicht zu den Fällen. (dpa)



Hintergrund:

Falscher Käse, Mogelschinken, Klebefleisch: Die Verbraucher sind beim Einkaufen zunehmend verunsichert. Denn was draufsteht, muss längst nicht immer drin sein. Jüngster Fall ist der Verdacht auf «Klebeschinken». Der oberste Verbraucherschützer in Deutschland, Gerd Billen, ist sauer, weil mehrere Fleischhersteller einem Bericht des NDR zufolge rohen Schinken aus mehreren Teilen zusammengesetzt haben sollen - ohne dies anzugeben. Für den Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen bringt der neue Fall nach falschem Käse und Schinken-Imitat das Fass zum Überlaufen.


Ist «Klebeschinken» gesundheitlich bedenklich?

Nein. Beim «Klebeschinken» droht weder Gefahr für die Gesundheit noch geht es etwa um Gammelfleisch. Dennoch hat sich Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) eingeschaltet. Sie fordert, alle Lebensmittel in Deutschland so zu kennzeichnen, dass eine Irreführung der Verbraucher ausgeschlossen ist. Das ist im Lebensmittelgesetzbuch geregelt.


Darf roher Schinken aus kleinen Stücken zusammengeklebt werden?

Neben dem Lebensmittelgesetzbuch gibt es das Lebensmittelbuch, eine Sammlung von Expertenempfehlungen. Darin steht, dass die Hersteller bestimmte Fleischstücke zu einem größeren Stück zusammensetzen dürfen. Wenn aber die Fleischstücke eine bestimmte Größe unterschreiten, verstößt dies gegen die Leitsätze. Genau das ist bei den «Klebeschinken»-Fällen passiert, meint das Bundesverbraucherministerium.


Wie müssen zusammengesetzte Fleischstücke gekennzeichnet werden?

Damit die Verbraucher Schinken und zusammengesetzten Schinken nicht verwechseln, sieht das Deutsche Lebensmittelbuch das Wort Formfleisch-Schinken vor. Die Praxis, Schinken aus Teilen zusammenzufügen, war bisher meist nur bei gekochtem Schinken bekannt.


Gibt es auch bei anderen Lebensmitteln «Mogelpackungen»?

Die Verbraucherorganisation Foodwatch verleiht in diesem Jahr wieder den «Goldenen Windbeutel» für die «dreisteste Werbelüge». Unter den Kandidaten ist ein Schoko-Milch-Drink, der als gesund beworben wird. Eine kleine Flasche davon enthält laut Foodwatch umgerechnet acht Stück Würfelzucker. Der Hersteller habe erklärt, dass ungesüßte Produkte von den Verbrauchern geschmacklich abgelehnt würden. Oder eine Bio-Erfrischung mit natürlichen Zutaten. Sie enthält nach Angaben der Verbraucherschützer Zitronensäure, Ascorbinsäure, Zucker, Gerstenmalz und «natürliches Aroma». Der Hersteller habe erklärt, er halte sich streng an die EU-Bio- Verordnung.


Verstoßen die Fälle immer gegen Gesetze?

«Viele Produktbezeichnungen sind irreführend, Marketing wird als Information getarnt», sagt Foodwatch-Vizegeschäftsführer Matthias Wolfschmidt. «Lebensmittelhersteller müssen nicht einmal gegen Gesetze verstoßen, sie können die Verbraucher ganz legal täuschen.»


Was wird gegen Irreführung getan?

Aigner fordert mehr Klarheit und Wahrheit. Die Experten der Lebensmittelbuch-Kommission - darunter Wissenschaftler und Verbraucherschützer - haben im Februar zugesagt, sie wollten die Leitsätze klarer fassen. Bisher musste Kalbsleberwurst zum Beispiel keine Kalbsleber enthalten. Zumindest das soll sich nun ändern.

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