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19.08.2010 | 15:35 | Energiepolitik  

Kann Deutschland nur von Öko-Strom leben?

Berlin - Hans-Josef Fell malt mit dem Finger eine schnell ansteigende Kurve auf das Blatt Papier.

Erneuerbare Energie
(c) proplanta

«Wir sind jetzt am Turning-Point» (Wendepunkt), sagt der Grünen-Abgeordnete. Er ist der Kopf hinter dem vor zehn Jahren beschlossenen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Es hat den Weg für den Boom beim Ökostrom geebnet. «Jetzt sehen die Gegner ihre letzte Chance, den Boom zu zerstören. Gelingt es ihnen nicht, wird die Kurve steil nach oben gehen», sagt Fell. Mit den Gegnern meint er die Befürworter von längeren Atomlaufzeiten.

Die Debatte um das Energiekonzept der Bundesregierung sei zu einem Glaubenskrieg ausgeartet, stöhnt der Vertreter eines Energiekonzerns. Die zentralen Fragen lauten: Braucht Deutschland trotz eines von der Regierung prognostizierten 38,6-Prozent-Anteils der Öko-Energien an der Stromerzeugung bis 2020 weiter so viel Atom- und Kohlestrom? Oder geht es auch bald schon nur mit Öko-Strom? Als einer der wenigen Vertreter der Energiekonzerne gibt der Chef der Eneuerbaren-Sparte von RWE, Fritz Vahrenholt, nun 50 Prozent Öko-Stromanteil als konkretes Ziel bis 2050 aus. Ein 100-Prozent-Ziel sieht er angesichts fehlender Flächen für einen gewaltigen Windkraftanlagen-Ausbau in der Nordsee und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Biomasse als Utopie an.

Deutschland braucht daher die Kernenergie weiter als Brücke ins erneuerbare Zeitalter, sagen Atomindustrie und Politiker wie Unions- Fraktionschef Volker Kauder (CDU), Bayerns Ministerpräsident Horst Sehhofer (CSU) und Baden-Württembergs Regierungschef Stefan Mappus (CDU). Solar- und Windenergie seien zu schwankend, die gleiche Energiemenge liefernde Kraftwerke daher als Regulativ notwendig. Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) ist vielen in der Union zu grün, er bekennt sich klar zur Umstellung auf die Erneuerbaren - er will trotz aller Widerstände versuchen, einen moderaten Kompromiss zu finden. Ende September soll Klarheit herrschen.

Möglich ist, dass drei bis fünf ältere Atomkraftwerke schon 2011 abgeschaltet und deren Reststrommengen auf neuere Meiler übertragen werden, die dann weit über das Jahr 2030 hinaus laufen könnten. Da die beiden CDU-Regierungschefs in Niedersachsen und Schleswig- Holstein, David McAllister und Peter Harry Carstensen, keine Freunde längerer Laufzeiten sind und lieber auf Windkraft setzen, könnte es zu einer Atom-Konzentration im Süden kommen.

Fell und viele andere hoffen dagegen auf eine Zukunft mit 100 Prozent erneuerbaren Energien - am besten bereits bis 2030. Nicht nur Fell befürchtet, dass bei dem erwarteten Atom-Beschluss von Schwarz- Gelb schon bald zu viel Strom auf dem Markt sein könnte. Sobald der Beschluss für längere Laufzeiten unter Dach und Fach sei, würde deshalb zum Kampf gegen den Einspeisevorrang für Sonnen-, Wind oder Wasserenergie geblasen, befürchtet die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Bundesgeschäftsführer Rainer Baake sagt, sowohl-als-auch gehe nicht, sondern nur entweder-oder.

Entscheidet sich Schwarz-Gelb wie erwartet für die erste Variante, sieht Baake ein energiepolitisches Chaos und «Verteilungskämpfe» heraufziehen. Er verweist auf einen Passus im Energiewirtschaftsgesetz, der es aus Gründen der Stromsicherheit erlaubt, Solar- oder Windkraftanlagen vom Netz zu nehmen. «Ein Atomkraftwerk kann man nicht morgens um 9 abschalten und um 3 Uhr am Nachmittag wieder hochfahren», so Baake. Um bei weiter zunehmendem Öko-Stromanteilen die Funktionsfähigkeit von Atom-, aber auch Kohlekraftwerken zu gewährleisten, könnte daher dem ständigen Zuwachs bei Öko-Energien ein Riegel vorgeschoben werden, fürchtet die DUH.

Der DUH-Geschäftsführer betont, er wolle nicht wissen, wie die Bürger in Bayern und Baden-Württemberg reagieren, wenn ihre teuren Photovoltaikanlagen abgeschaltet werden müssen, weil sich ihre Ministerpräsidenten so vehement für eine längere Zukunft der Atomenergie eingesetzt haben. Immer häufiger werden in jüngster Zeit auch die hohen Subventionen für die Erneuerbaren kritisiert.

Das Klima wird rauer. Ein Stromüberschuss-Szenario könnte in der Tat drohen. Projiziert man den heutigen Stromverbrauch und die Regierungszahlen für den erwarteten Öko-Energie-Ausbau bis 2020, kommen erstaunliche Berechnungen zustande, wie Carsten Pape vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) jüngst in Berlin erläuterte. Demnach ist im Mai und Juni 2020 immer wieder mit Tagen zu rechnen, wo der Energiehunger nur mit Öko-Energien gedeckt werden kann - es kommt sogar teilweise zu Öko-Strom-Überschüssen. (dpa)


Hintergrund:

Wachstumsmotor erneuerbare Energien

Die erneuerbaren Energien gelten als eine der Zukunftsbranchen in Deutschland. Ein Überblick:

  • 2009 wurden nach Angaben des Bundesumweltministeriums (BMU) 17,7 Milliarden Euro in den Ausbau der erneuerbaren Energien investiert, davon 9,6 Milliarden Euro in den Ausbau im Bereich Photovoltaik.
  • Die deutlichsten Zuwächse bei den Investitionen gab es im Bereich der Stromerzeugung aus Biomasse (Verdopplung), Photovoltaik (22 Prozent) und Windenergie (15 Prozent).
  • Das BMU schätzt die Zahl der Beschäftigten für 2009 auf 300.500. Im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein Plus von rund acht Prozent. Seit 2004 hat sich die Zahl der Beschäftigten in dem Sektor um 140.000 Arbeitsplätze oder 87 Prozent erhöht.
  • Die Biomasse hat mit rund 36 Prozent (109.000 Arbeitsplätze) weiter den größten Teil bei der Beschäftigung in diesem Bereich, gefolgt von der Windenergie mit 29 Prozent (87.100), der Solarenergie mit 27 Prozent (79.600) und der Geothermie sowie der Wasserkraft mit je rund drei Prozent (9.300 und 9.000).
  • Nach Angaben der Agentur für Erneuerbare Energien könnten es bis 2030 rund 700.000 Beschäftigte in dieser Branche geben, was mit der Beschäftigtenzahl in der Automobilindustrie zu vergleichen sei.
  • Besonders Kommunen in wirtschaftsschwachen Regionen können von der Öko-Energie profitieren: Eine Prognos-Studie hat ermittelt, dass pro installiertem Megawatt Windenergie bei 20 Jahren Betriebszeit Gewerbeeinnahmen von 100.000 Euro anfallen. Bei 50 Megawatt bekäme die Gemeinde 5 Millionen an zusätzlichen Gewerbesteuereinnahmen. Hinzu kommen Einnahmen, weil notwendige Flächen verpachtet werden.
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