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18.06.2020 | 02:07 | Virus trifft Ärmere 

Corona-Ausbruch in Fleischfabrik und Berliner Wohnblock

Rheda-Wiedenbrück / Gütersloh / Berlin - Ein Corona-Ausbruch mit mehr als 657 Neuinfizierten in einem Schlachtbetrieb trifft mit Tönnies einen Branchenriesen.

Fleischproduktion
Das Coronavirus greift nach den allgemeinen Lockerungen noch einmal um sich, etwa bei einem Schlachtereibetrieb der Firma Tönnies in Westfalen und in einem Wohnblock in Berlin. Im Vergleich zu den vergangenen Monaten gibt es nun aber Besonderheiten. (c) proplanta
Deutschlands Marktführer bei der Schlachtung von Schweinen muss seinen Hauptproduktionsbetrieb in Rheda-Wiedenbrück herunterfahren. Der zuständige Landrat Sven-Georg Adenauer geht davon aus, dass der Produktionsstopp zwischen 10 bis 14 Tagen dauert wird.

«Wenn die Infektionszahlen runter gehen, kann es auch schneller gehen», sagte der CDU-Politiker bei einer Pressekonferenz am Mittwoch in Gütersloh.

Für den gesamten Kreis will Adenauer einen allgemeinen Lockdown verhindern, obwohl die wichtige Marke von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen deutlich überschritten sei. «Wir wissen, dass es mit Tönnies ein lokales Ereignis ist», sagte Adenauer. Er appellierte aber an die Bevölkerung, sich in der Öffentlichkeit mit Kontakten zurückzuhalten.

Tönnies-Sprecher André Vielstädte wandte sich im Name der Eigentümer an die Öffentlichkeit: «Wir möchten uns bei der Bevölkerung des Kreises im Namen der Familie Tönnies entschuldigen. Wir werden alles dafür tun, das Virus aus dem Betrieb zu bekommen, um wieder arbeitsfähig zu werden.»

Auch für die Region wird das sich rasant entwickelnde Infektionsgeschehen in der Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück Auswirkungen haben: Der Kreis Gütersloh kündigte an, alle Schulen und Kitas bis zu den Sommerferien wieder zu schließen. Durch diesen Schritt solle eine Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung vermieden werden, sagte eine Sprecherin des Kreises.

Landrat Adenauer sprach von einer Vorsichtsmaßnahme. «Das kann doch echt nicht war sein», sei seine erste Reaktion gewesen, als er von den neuen positiven Tests bei Tönnies erfahren hatte.

Am Hauptstandort von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück schlachtet das Unternehmen nach eigener Angabe pro Tag 20.000 Schweine.

Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen haben in den vergangenen Monaten immer wieder Schlagzeilen gemacht und eine Debatte über die Missstände bei Arbeits- und Unterbringungsbedingungen der häufig aus Osteuropa stammenden Beschäftigen ausgelöst. Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hatte im Mai eine großangelegte Reihentestung der Mitarbeiter in der Fleischindustrie angeordnet.

Im Kreis Coesfeld war ein Betrieb zeitweise geschlossen worden. Laumann kündigte am Mittwoch an, dass erneut landesweit alle Schlachthofbelegschaften mit Werkvertragsarbeitern auf das Virus getestet werden. Danach werde man wissen, ob es sich bei dem Ausbruch um eine Ausnahme handelt oder nicht. 

Clemens Tönnies, geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens, hatten sich vor Wochen nach einem Virus-Ausbruch beim Konkurrenten Westfleisch gegen den Generalverdacht gegen die Branche gewehrt.

Deutschlands Marktführer Tönnies war zunächst nur mit einzelnen Infizierten aufgefallen. Nun drehte sich das Blatt: Über das Wochenende vermeldete der Kreis Gütersloh einen ersten sprunghaften Anstieg. Dienstagabend berichteten die Behörden dann von 128 Infizierten bei dem Unternehmen binnen sieben Tagen.

«In unseren Zerlegebetrieben herrschen sozusagen spätwinterliche Temperaturen. Es mehren sich die Erkenntnisse, dass die dortigen mikroklimatischen Bedingungen die Verbreitung besonders begünstigen können», hatte Gereon Schulze Althoff, Leiter des Pandemiestabs bei Tönnies, am Dienstagabend erklärt.

Am Tag darauf nannte Schulze Althoff die Kälte in der Produktion und die vermehrten Heimreisen der Beschäftigten in den zurückliegenden langen Wochenenden an Pfingsten und Fronleichnam nach Osteuropa als mögliche Faktoren für die Ausbreitung des Coronavirus.

Schulen und Kindertagesstätten im Kreis Gütersloh sind geschockt über die geplanten Schließungen nach einem Corona-Ausbruch. «Die Nachricht kam eben zur Abholzeit, wir konnten es den Kindern gar nicht mehr richtig erklären», sagte Marina Pielsticker, Leiterin einer Kindertagesstätte in Borgholzhausen.

«Mit einigen Eltern konnte ich wenigstens noch über den Zaun hinweg sprechen.» Sie wisse noch nicht, wie es die nächsten Tage weitergehe. «Endlich hatten wir mal wieder Kinderlachen in den Räumen und nun ist alles wieder zu», so Pielsticker. «Es ist hart, das den Kindern zu erklären.»

Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte vor Journalisten auf die Frage, was der Corona-Ausbruch bei Tönnies über die bisherigen Lockerungen aussage: «Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. (...) Das hat nichts mit Lockerungen zu tun, sondern mit der Unterbringung von Menschen in Unterkünften und Arbeitsbedingungen in Betrieben.»

Der Corona-Ausbruch in Berliner Wohnblöcken stellt aus Sicht eines Berliner Amtsarztes eher kein Risiko für die Allgemeinbevölkerung der Hauptstadt dar. Trotz Querverbindungen in andere Bezirke sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein berlinweites Problem entstehe, «nicht besonders groß», sagte der Leiter des Gesundheitsamts Reinickendorf, Patrick Larscheid, am Mittwoch im RBB-Inforadio. Er stellte einen Zusammenhang zu den Ausbrüchen in NRW her: Die Betroffenen hier wie dort lebten so abgeschottet, dass das Virus wohl nicht überschwappe.

In der Bevölkerung lasse allgemein die Disziplin beim Einhalten der Corona-Regeln nach, sagte der Amtsleiter: «Insofern ist es natürlich in der jetzigen Situation noch mal schwieriger, Menschen zu verdeutlichen, dass Corona eben nicht vorbei ist und dass auch das Einhalten von einer Quarantäne bedeutet, andere Menschen zu schützen.» Die vom Ausbruch betroffenen Gruppen seien arme und zum großen Teil auch bildungsferne Menschen, sagte Amtsarzt Larscheid im Inforadio. Sie seien schwer zu schützen.

Die neue staatliche Corona-Warn-App, die beim Nachverfolgen der Kontakte helfen soll, wertete Larscheid in Anbetracht des akuten Falls als «Spielzeug für die digitale Oberschicht». Bei Gruppen wie den nun Betroffenen könne man sich davon keine Vorteile erhoffen.
dpa
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