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19.01.2011 | 08:00 | Gefahrenzone 

Nahrungspreise werden wieder zum Sprengsatz

Washington - Die dramatischen Szenen waren fast schon vergessen: Knapp drei Jahre ist es her, da beherrschten Plünderungen in Haiti, tödliche Schlägereien um Brot in Ägypten, Proteste von Vietnam bis Bolivien die Schlagzeilen.

Grundnahrungsmittel
Rund um den Globus waren explodierende Nahrungsmittelpreise plötzlich zum hochgefährlichen sozialen Sprengsatz geworden. Jetzt scheint sich alles zu
wiederholen: Die Schauplätze heißen nun Algerien, Tunesien und Jordanien. Droht ein neuer globaler Flächenbrand?

An Warnungen fehlte es nicht. Schon im Oktober hatte die Weltbank ihren Nothilfe-Fonds reaktiviert, den sie als Antwort auf die Krise von 2008 aufgelegt hatte. Auch die Vereinten Nationen schlugen Alarm: Der Grundnahrungsmittel-Index der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) kletterte im Dezember auf ein Rekordniveau. Erst vor wenigen Tagen stutzte das US-Agrarministerium seine Prognosen zum weltweiten Ernteergebnis zurück. «Wir erreichen eine Gefahrenzone», mahnte FAO-Chefökonom Adbolreza Abbassian in einem Interview.

«Ob Proteste die Folge sein werden oder mehr hungernde Menschen - die Konsequenzen werden erheblich sein», meint auch Richard Henry, Chef-Agrarökonom der Internationalen Finanz-Corporation (IFC), die als Teil der Weltbank in Privatunternehmen der ärmsten Länder investiert. «Schaut man sich den Nahrungsmittelkorb einer Familie an, sind wir in etwa derselben Situation wie 2008.»

Der Preisanstieg ist atemberaubend: Allein in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres schoss der Getreidepreis um 57 Prozent nach oben, der für Öle und Fette um fast genauso viel, und der Zuckerpreis gar um 77 Prozent. Asien blieb von Protesten bislang wohl verschont, weil sich der Preis für Reis dem scharfen Aufwärtstrend bislang nicht anschloss - anders als vor drei Jahren.

Explodierende Nahrungsmittelkosten treffen immer zuerst und am schwersten die Armen, weil sie eine weit größeren Teil ihres Geldes für Essen ausgeben müssen. Die erschütternde Konsequenz: Hungerten vor der Krise vor drei Jahren weltweit 800 Millionen Menschen, war es danach eine Milliarde, wie die Weltbank ermittelte.

Dass die Welt nun schon wieder an der Schwelle zu einer globalen Nahrungsmittelkrise steht, liegt am teuflischen Zusammenspiel einer ganzen Reihe von Faktoren. Nach den Worten von Agrarökonom Henry sind die weltweiten Vorräte an Grundnahrungsmitteln schon seit Anfang des Jahrtausends rückläufig, in den Jahren 2007 und 2008 erreichten sie dann Tiefststände. «Wenn es dann irgendwo einen Ernteausfall gibt, hat das sofort gewaltige Folgen für die Preise.»

Vor drei Jahren ging die Krise von Australien aus, jetzt von Dürren in Russland, der Ukraine und Osteuropa. «Seit 2008 haben sich die Vorräte zwar etwas erholt, aber nicht genug», um Einbußen vom Sommer 2010 abzufedern. Schlimmer noch: Die Fluten in Australien hätten bereits «drastische Auswirkungen» auf die aktuelle Weizenernte, berichtet Deutsche-Bank-Analystin Claire Schaffnit- Chatterjee. Trockenheit in Südamerika und im Westen der Great Plains der USA, der Kornkammer des Landes, könnte die Lage noch verschärfen.

«Die Preise werden von Langzeittrends einer steigenden Nachfrage nach oben getrieben, die dann von kurzfristigen Wettereinflüssen überlagert werden», erläutert Atul Mehta, Direktor der IFC-Abteilung für Agrar, Industrie und Dienstleistungen. Die Gründe liegen auf der Hand: Bis 2050 soll die Weltbevölkerung die Marke von neun Milliarden erreicht haben. Wachsende Mittelschichten in aufstrebenden Riesenländern wie Indien und China können sich mehr Fleisch leisten, was die wiederum die Nachfrage nach Futtermitteln hochtreibt.

Wegen des Trends zu Biokraftstoffen werden Teile der Maisernten zu Öko-Sprit. Spekulanten sorgen zusätzlich für eine Achterbahn-Fahrt der Preise. Auch die derzeit lockere Geldpolitik der US-Notenbank wird für den Rohstoff-Boom mitverantwortlich gemacht. Und nicht zuletzt: Über Jahrzehnte haben Regierungen wie auch die Privatwirtschaft Investitionen in den Agrarsektor sträflich vernachlässigt. Dabei kann Studien zufolge ein Wachstum in der Landwirtschaft Armut dreimal effektiver verringern als Wachstum in anderen Bereichen.

Zwar rechnet die Weltbank noch bis 2015 mit einem scharfen Auf und Ab der Preise. «Es gibt aber Grund für Optimismus», betont IFC- Experte Mehta. Das Rezept: Mehr Agrarfläche müsse her. In Afrika südlich der Sahara und in Lateinamerika sei sie vorhanden. Zudem gelte es, die Produktivität zu erhöhen und unnötige Verluste etwa wegen fehlender Kühlhäuser zu vermeiden. So verrottet in Indien ein Drittel der Ernte, bevor sie die Verbraucher erreicht.

Eine Trendwende ist aus Sicht der IFC aber schon eingeleitet. «Im südlichen Afrika unternehmen eine Reihe von Regierungen konzertierte Aktionen und lassen Geld in die Landwirtschaft fließen, um die richtigen Bedingungen für Investitionen zu schaffen», berichtet Mehta. Die IFC schraubte ihre eigenen Investitionen in den Sektor 2010 auf knapp zwei Milliarden Dollar herauf, von 850 Millionen nur vier Jahre zuvor. Die großen Unbekannten seien jedoch die Folgen des Klimawandels sowie die Fragen, ob immer ausreichend Wasser für Felder vorhanden sei und ob der Bedarf an Biosprit noch steige, sagt Mehta.

Auch Agrarökonom Henry, der sich seit vielen Jahren mit dem Sektor beschäftigt, ist zuversichtlich: Vor drei Jahren habe es arge Zweifel gegeben, ob die - wegen aufstrebender Wirtschaftsmächte wie China wachsende - Nachfrage überhaupt befriedigt werden könne. «Inzwischen stimmt man überein, dass die Ressourcen vorhanden sind, sei es Land oder Wasser», sagt er. «Es gibt keinen Zweifel, dass die Welt sich selbst ernähren kann. Es muss sich nur derart viel zusammenfügen, dass es nicht von heute auf morgen passieren wird.» (dpa)
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