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20.10.2009 | 18:01 | Welternährung  

Globale Herausforderung mit lokalen Lösungen

Zürich - Bundesrätin Doris Leuthard sprach im gefüllten ETH-Auditorium über globale Ernährungssicherheit und Schweizer Agrarpolitik.  

Globale Herausforderung mit lokalen Lösungen
In der anschliessenden Podiumsdiskussion suchten Experten zwischen offenen Märkten, Schutzzöllen, nachhaltiger Produktion und Klimawandel nach Lösungen für zukünftige landwirtschaftliche Herausforderungen.

Am vergangenen Freitag erinnerte die FAO mit dem Welternährungstag daran, dass auf der Erde heute über eine Milliarde Menschen an Hunger leiden (siehe auch Artikel «Erinnerung an eine vergessene Krise». Der Fachverein der Studierenden der Agrar- und Lebensmittelwissenschaften (VIAL) nahm die FAO-Forderung nach mehr Investitionen und Engagement für die globale Landwirtschaft als Anlass für eine Podiumsdiskussion unter dem Titel «Global Food Security und die Rolle der Schweiz».

Gleich zu Beginn des Podiums visualisierten die Veranstalter die enorme Zahl an hungernden Menschen und die daraus hervorgehende globale Herausforderung. Sie verteilten den Zuhörern im bis zum letzten Platz gefüllten Auditorium verschiedenfarbige Karten, die beim gemeinsamen Aufstrecken das Verhältnis von hungrigen und satten Bäuchen abbildete sowie die 40 Prozent Menschen, die bis ins Jahr 2050 zusätzlich zu ernähren sind. Die Aktion verdeutlichte: Würde man die insgesamt sechs Milliarden Menschen sämtlicher Nationen einigermassen gut durchmischen, wie in diesem Auditorium, so gehörte ganz sicher der eine oder andere Nachbar vor der eigenen Haustür zu den Hungernden.


Globale Koordination über UNO

Das hochkarätig besetzte Podium war in vielerlei Hinsicht etwas unkonventionell: Eine mit Korn gefüllte Sanduhr symbolisierte, dass uns die Zeit zum Lösen des Hungerproblems durch die Hände rinnt; einzelne Studierende im Publikum erhielten von VIAL eine «carte blanche», um die Diskussion mit Trillerpfeife oder Stoppschild zu unterbrechen und ihre Fragen oder Kommentare zu platzieren. Hier ging es den studentischen Veranstaltern nicht nur um Information, sondern auch um einen Appell.

Engagiert und ebenfalls appellierend führte Bundesrätin Doris Leuthard das Publikum zu Beginn der Veranstaltung in einem halbstündigen Vortrag in die wichtigsten Probleme der globalen Ernährungssicherheit ein. Sie wünscht sich eine prominentere Rolle der UNO, diese habe nämlich während der Nahrungsmittelkrise vom vergangenen Jahr mit ihrer kurzfristig einberufenen Task Force gezeigt, dass sie für solche Mandate geeignet sei. Eine besonders wichtige Rolle spiele dabei die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO). Im November werde darum unter Beteiligung der Schweiz am «World Summit on Food Security» in Rom über eine globale Partnerschaft aller wesentlichen Stakeholder diskutiert.

Laut der Vorsteherin des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements hat die Schweiz aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung, der hervorragenden Forschung und ihrer privilegierten Situation eine Verantwortung gegenüber der Landwirtschaftsentwicklung in Drittweltländern. Über Wissenstransfer könne die Schweiz wesentlich zu höheren Ernteerträgen in Entwicklungsländern beitragen. Die Ertragssteigerung sei aufgrund des Bevölkerungswachstums, mit zusätzlichen drei Milliarden Menschen bis ins Jahr 2050, unbedingt notwendig. Auch in der Schweiz selber sieht die Bundesrätin Handlungsbedarf: Das Schweizerische Kulturland müsse besser geschützt werden, da die fruchtbare Fläche stetig abnehme. Ein verbesserter Schutz der Böden müsste deshalb im Raumplanungsgesetz verankert werden. Wichtig scheint Leuthard auch, dass die Ressourceneffizienz weiter gesteigert wird, dass also mit weniger oder gleichviel Wasser und Land mehr Nahrung produziert werden kann. Nachhaltigkeit habe dabei für den Bundesrat jedoch erste Priorität.


Mehr Hunger trotz steigender Produktion

Die Rolle der Effizienzsteigerung und des technologischen Fortschritts im Kampf gegen den globalen Hunger wurde in der anschliessenden Podiumsdiskussion kontrovers diskutiert. Peter Niggli, Geschäftsleiter von Alliance Sud, einer Lobbyorganisation der sechs grossen Schweizer Hilfswerke, wollte nichts von einer erneuten grünen Revolution wissen, wie sie ab den 50er-Jahren mit Hochleistungs-Pflanzensorten und intensiver Landwirtschaft stattfand. Er ist davon überzeugt, dass Hunger in erster Linie ein Verteilungsproblem und kein Produktionsproblem ist. Das zeige sich alleine daran, dass die Nahrungsmittelproduktion seit den 60er-Jahren stärker angewachsen sei, als die weltweite Bevölkerung. Die Ursachen für den Hunger sind für Niggli politischer und gesellschaftlicher Natur. Das starke soziale Ungleichgewicht und die Unterdrückung der Rechte von Bauern in Drittweltländern führten zur heutigen verheerenden Situation mit über einer Milliarde hungernden Menschen.

Markus Arbenz, Direktor der IFOAM, der internationalen Dachorganisation für den ökologischen Landbau, stimmte Niggli zu: Heute werde ein Viertel mehr Nahrung produziert, als für die Versorgung der Menschheit tatsächlich nötig wäre. Deshalb lautete seine Forderung: «Der Mensch muss in den Vordergrund, nicht die Technik». Der dritte Podiumsgast, Hans-Jörg Walter, Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Bauernverbandes, war etwas anderer Meinung. Er ging mit Leuthard einig, dass eine Steigerung der Produktion - besonders in Anbetracht des Klimawandels und weniger fruchtbaren Flächen - unumgänglich sei. Walter erkennt besonders in der Spekulation mit Nahrungsmitteln ein gewichtiges Problem. Sie sei dafür verantwortlich, dass Produkte in erster Linie dort verfügbar sind, wo am meisten dafür bezahlt wird und nicht dort, wo sie wirklich benötigt werden. Um diese Fehlentwicklung auszugleichen, seien Politik und griffige Gesetze gefragt.

Einig waren sich die Podiumsteilnehmer darin, dass die Investitionen in die Landwirtschaftsentwicklung in Zukunft wieder erhöht werden muss. In der Schweiz machen die Ausgaben für die Landwirtschaft zurzeit weniger als zehn Prozent des Entwicklungsbudgets aus, wie Niggli erklärte. In den meisten Ländern seien die Investitionen im Rahmen ihrer Hilfe für Entwicklungsländer seit den 80er-Jahren rückläufig und noch geringer als in der Schweiz. Das müsse sich unbedingt wieder ändern, denn Landwirtschaft sei einer der nachhaltigsten Ansatzpunkte für die Entwicklungszusammenarbeit, stimmten Arbenz und Leuthard überein.


Lokal handeln, global denken

Wo die kleinen Stolpersteine mit weitgehenden Konsequenzen für Entwicklungsländer liegen, zeigte sich ganz am Ende des Podiums: Peter Niggli kritisierte ein «Kuriosum» der Schweizer Handelspolitik: Auf bestimmte zollfreie Produkte aus Entwicklungsländern, wie zum Beispiel Zucker, wird von der Schweiz eine Steuer erhoben, mit der die Kasse für die Schweizer Kriegsvorsorgereserven gefüllt wird. Dies sei nur ein Beispiel, wie ein scheinbar offener Markt mit kleinen Anpassungen zugunsten der Schweizer Produktion manipuliert wird, so Niggli.

Bundesrätin Doris Leuthard entgegnete daraufhin, wenn in der Schweiz der Import von Zucker vollständig liberalisiert würde, dann stünden hierzulande von heute auf morgen 2000 Bauern auf der Strasse. Ähnlich sehe die Lage bei anderen Produkten aus, die sowohl in Entwicklungsländern wie auch in der Schweiz produziert würden, da die Schweiz nicht mit dem Preisniveau der südlichen Konkurrenz mithalten könne. Leuthard appellierte deshalb an den Konsumenten: Ein sofortiger Abbau der Zölle sei nur möglich, wenn man davon ausginge, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung bewusst für nachhaltig und lokal produzierte Produkte entscheiden würde, auch wenn diese teurer sind als die ausländischen Konkurrenzprodukte. Die Mehrheit im prall gefüllten Auditorium konnte sich wohl bei der Nase nehmen: Würden wir Nahrung wieder als etwas wertvolles betrachten, das auch seinen Preis haben darf und würden wir als Konsument lokal einkaufen und global denken, so fände sich auf viele der Probleme, die an diesem Freitagnachmittag diskutiert wurden, sicher rascher eine Lösung. (ETH-Zürich / Samuel Schläfli
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