Nun sollen Tabellen über Fett, Zucker und Kalorien von Lebensmitteln aufklären. Kritiker sprechen vom Sieg der Industrie.
Jeder zweite Europäer ist zu dick - und schuld ist oft die ungesunde Ernährung. Wer weiß schon, was in Snacks, Fertiggerichten und Drinks wirklich an Fett und Zucker drin ist? Im Kampf gegen die Volkskrankheit Übergewicht will die EU vor Dickmachern im Supermarktregal warnen. Mit irreführenden Angaben und Verbrauchertäuschung soll Schluss sein. Das Rezept: Verpflichtende Tabellen, die auf jeder Lebensmittel-Verpackung von 2014 an Nährwerte und Kalorien zeigen - erstmals mit europaweiten Vorgaben. Die umstrittene Kennzeichnung in Ampelfarben soll nicht Pflicht werden.
Was die EU-Minister als Sieg der Konsumenten verkaufen, nennen Verbraucherschützer und Europa-Abgeordnete einen geschickten Schachzug der Lebensmittelindustrie. Von «purer Augenwischerei» und «einer schallenden Ohrfeige für die Verbraucher» ist die Rede. «Das ursprüngliche Ziel wurde geopfert, um die Profite der Lebensmittelindustrie nicht zu gefährden», bemängelt die Verbraucherorganisation Foodwatch. Minischrift-Angaben und dann noch auf der Rückseite von Verpackungen, das sei nicht verbraucherfreundlich.
Mit aller Macht sträubt sich die Lobby seit Jahren gegen eine einfache Lebensmittel-«Ampel», die rot, gelb und grün die wichtigsten Nährwertangaben auf der Verpackung zeigt. Die Branche fürchtet um ein Milliardengeschäft. «Die
Ampel kann in die Irre führen, ja sie kann sogar gefährlich sein», warnte der Vorsitzende der Lobbyorganisation der Lebensmittel-Industrie (CIAA), Geoff Thompson, mehrfach. Wer nur grün gekennzeichnete Lebensmittel esse, könne mangelernährt sein. Orangensaft, Nüsse, Olivenöl, Sauerkraut oder Apfelmus wären rot, sagen Kritiker. Und wo ist die Grenze jeder Farbe?
Die Lobbyisten hatten Erfolg: Das Europaparlament lehnte die Ampel im Sommer ab; auch bei Bundesverbraucherministerin Ilse
Aigner (CSU) und in den anderen EU-Staaten fand sie keine Mehrheit. Nun hat die Industrie ihr Kennzeichnungssystem durchgesetzt. Schon heute stehen auf bis zu 70 Prozent aller Produkte Tabellen zum Inhalt, häufig mit Richtwerten für den Tagesbedarf. Für Aigner sind aber nicht alle Probleme vom Tisch: Sie lobt zwar, die Infos seien verständlicher und schützten besser vor Täuschung. Doch ihr geht das Ganze nicht weit genug.
Denn die Skandale der jüngsten Zeit mit «Analogkäse» und «Klebe- Schinken» könnten sich wiederholen. Zwar darf dort, wo kein Käse, sondern Imitat drin ist, auch nicht «Käse» drauf stehen. Statt deutlicher Worte wie «Schinkenimitat» kann aber die Lebensmittelindustrie Wortungetüme nutzen: «Eine Pizza mit Schinkenimitat kann auch als 'Pizza mit zerkleinerten Zutaten mit erheblich reduzierten Fleischanteilen' bezeichnet werden», sagt Aigner. «Ob das die Verbraucher verstehen, ist zu bezweifeln.»
Hersteller können die Kalorienangaben auch auf der Rückseite der Verpackung verstecken. «Hier hat der Rat versagt, denn gerade die Angabe der Kalorien ist für die Verbraucher äußerst wichtig», kritisiert die Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt (SPD). Wie sonst sollten Verbraucher bei einer Diät die richtigen Produkte kaufen?
Das Parlament muss dem Beschluss der EU-Minister noch zustimmen. Die Abgeordneten haben bereits Widerstand angekündigt und erwarten schwierige Verhandlungen. «Die Verbraucher werden noch eine Weile auf eine verständlichere Kennzeichnung von Lebensmitteln warten müssen - wenn sie überhaupt noch zustande kommt», sagte die Berichterstatterin des Europaparlaments, Renate Sommer (CDU). Dabei hatten vor allem die Konservativen im EU-Parlament gegen die Lebensmittel-Ampel gestimmt.
Für deutsche Verbraucher bleibt im Prinzip alles beim Alten: Der Kunde muss sich weiter mit einem Wust kleingedruckter Angaben auf der Verpackung auseinandersetzen. Dabei tut Aufklärung not, denn falsche Ernährung gilt als Hauptursache für
Diabetes und Herzinfarkt, die stark zunehmen. Allein in Deutschland belaufen sich die Kosten für ernährungsbedingte Krankheiten laut Krankenkassen jedes Jahr auf 70 Milliarden Euro. Immerhin: Die Hersteller in Deutschland sollen eine Packung als Grundlage für Fett & Co. nehmen, nicht eine Portion. Denn das könnte nach Ansicht auch von Aigner eine Mogelpackung sein. (dpa)