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10.10.2010 | 09:06 | Nutzflächen 
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Ackerbau im Wolkenkratzer

Monheim - Die Zahl der Menschen auf unserer Erde wächst rasant. Die Ernährungssicherung wird immer schwieriger. Die weltweiten Ackerflächen sind begrenzt und zunehmend vom Klimawandel bedroht.

Vertical Farm
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(c) proplanta
Deshalb arbeiten Agrarwissenschaftler, Ingenieure und Architekten bereits an Konzepten für die Landwirtschaft von morgen. Ihre Szenarien machen deutlich: Die Feldarbeit wandert in die Stadt - und wird vertikal.

Hinter Hochhausfassaden arbeiten und wohnen normalerweise Menschen. Lediglich dekorative Zimmerpflanzen sorgen für ein dezentes Grün. In Zukunft sollen hinter den Fenstern der Wolkenkratzer aber auch Salat, Tomaten oder Reispflanzen gedeihen. Als futuristische grüne Hochhäuser ragen die Stadtfarmen neben mehrstöckigen Bürogebäuden in den Himmel. Unter dem Schlagwort „Vertical Farming“ skizzieren Architekten visionäre Agrartürme, in denen sich effiziente Treibhäuser in luftige Höhen stapeln.

Ausgerüstet sind die urbanen Bauernhöfe mit umweltfreundlichen Windrädern und Solarzellen. Die Gebäude erinnern an Science-Fiction-Filme: Gläserne Pyramiden, lichtdurchflutete Türme und bauchige Silhouetten der Wolkenkratzer. Auf den Etagen gibt es keine Innenwände, sondern reine Hydrokulturfelder: Hier sollen verschiedene Gemüse- und Obstsorten wachsen und Reis- und Weizenkeimlinge sprießen. Selbst freilaufende Hühner und Wassertanks, in denen Garnelen und Fische gezüchtet werden, sollen in den vertikalen Farmen Platz finden. Angedacht sind auch schon schwimmende Stadtinseln, die auf Küstengewässern treiben und sich dank integrierten Gewächshäusern selbst versorgen können.

Nahrung für Megacities



Die Skizzen der Städte und Ideen der Landwirtschaft von morgen sind derzeit noch phantasievolle Designstudien. Doch wenn in 40 Jahren über neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, sind bereits heute innovative Ideen gefragt, um die Ernährung zu sichern. Vor allem in den Metropolen wächst die Bevölkerung rasant: Bis 2025 soll die Stadtbevölkerung von heute 3,5 Milliarden auf voraussichtlich 4,5 Milliarden zunehmen, während die Landbevölkerung lediglich von 3,4 Milliarden auf rund 3,5 Milliarden ansteigt.

Besonders für die „Megacities“ mit über 10 Millionen Einwohnern erwarten die Vereinten Nationen ein starkes Wachstum. Beispiel Delhi: Die indische Metropolregion umfasst derzeit etwa 21 Millionen Einwohner. 2020 sollen in Delhi voraussichtlich mehr als 26 Millionen Menschen leben, so die Prognosen des World Urbanization Prospects der Vereinten Nationen. Auch andere Metropolen wie Mumbai in Indien, Dhaka in Bangladesch, das kongolesische Kinshasa oder das chinesische Shanghai werden deutlich mehr Menschen ernähren müssen.

Zusätzliches Agrarland ist dringend nötig. Aber auf der Erde lassen sich kaum neue Flächen erschließen. Im Gegenteil: Die Ackerfläche pro Mensch schrumpft seit Jahrzehnten stetig. Nach Angaben der Vereinten Nationen stehen bis zum Jahr 2050 pro Kopf nur noch etwa 0,19 Hektar für den Ackerbau taugliche Flächen zur Verfügung - im Jahr 1950 waren es mit 0,52 Hektar fast drei Mal so viel. Durch Hitzestress und Dürre gehen immer mehr landwirtschaftliche Nutzflächen verloren. „Die Ernteeinbußen durch solche abiotischen Stressfaktoren sind enorm, teilweise bis zu 80 Prozent“, sagt Dr. Alexander Klausener, Forschungsleiter bei Bayer CropScience. Und der sich abzeichnende Klimawandel könne die Situation noch verschärfen, so der Wissenschaftler.

Urbane Landwirtschaft könnte helfen, die Probleme der Zukunft in den Griff zu bekommen. Wissenschaftler wie der amerikanische Professor Dickson Despommier sehen in den Ansätzen der vertikalen Farmen gar die Lösung mehrerer Probleme des 21. Jahrhunderts. Der Mikrobiologe an der Columbia University in New York City gilt als Urvater der Hochhaus-Bauernhöfe. In diesem Konzept sieht er nicht nur einen wichtigen Beitrag zur weltweiten Nahrungssicherung.

Die Treibhäuser im Etagenformat könnten durch ihre Stadtnähe auch Energie- und Transportkosten einsparen. Die aufwändige Reise verbunden mit der Emission klimaschädlicher Treibhausgase, die unser Obst- und Gemüse heute zurücklegt, ließe sich deutlich reduzieren. Ein weiterer Vorteil der Wolkenkratzer-Farmen: Die jetzigen landwirtschaftlichen Nutzflächen könnten wieder der Natur überlassen werden – wichtige Ökosysteme wie zum Beispiel Wälder, die CO2 speichern und damit der Atmosphäre entziehen können, ließen sich so reaktivieren. Heute braucht eine Stadt das Vielfache ihrer Größe an Agrarfläche, um die Bewohner zu ernähren. In Zukunft könnte laut Despommier ein Gebäude mit 30 Stockwerken etwa 50.000 Menschen mit Gemüse und Obst, Eiern, Fisch und Hühnerfleisch versorgen.

Effiziente Indoor-Farmen



Das Innenleben der visionären Etagen-Bauernhöfe soll möglichst nachhaltig gestaltet werden: Wasser zirkuliert in geschlossenen Kreisläufen, Tierfutter kann durch Pflanzenabfälle bereitgestellt werden und Düngemittel stammen aus dem Stallmist des Kleinviehs oder der Kanalisation. Die Pflanzen wurzeln in Substraten wie Steinwolle oder Kokosfasern, denn ohne Erde sind auch Schädlinge ein geringeres Problem. Die modernen Gewächshausanlagen bilden so ein eigenes Ökosystem mitten in den Metropolen - abkoppelt von Wetter- und Klimaschwankungen. Dadurch sind mehrere Ernten pro Jahr möglich, die Stadtbewohner können jederzeit frische Nahrungsmittel vom Farmhochhaus um die Ecke kaufen.

„Bislang konzentrieren sich die Entwürfe für vertikale Farmen vor allem auf futuristische Architekturen“, sagt Professor Joachim Sauerborn, Agrarexperte an der Universität Hohenheim. „Die notwendigen Anbautechnologien im Gebäude werden meist weniger beachtet. Zudem stehen eher hochpreisige Kulturen wie Gemüse und Obst, teils in Kombination mit Fisch- und Kleinviehzucht, im Fokus.

“Das Skyfarming-Konzept der Universität Hohenheim geht dagegen vom Bedarf der Pflanze aus. „Unser Konzept lässt sich mit dem Wohnhausbau vergleichen: Die Bedürfnisse der Bewohner bestimmen und dann das Gebäude mit entsprechenden Ausstattung planen“, erklärt Sauerborn die Strategie. Denn wie der Mensch stellen auch Pflanzen unterschiedliche Ansprüche - Salat wächst eben anders als Getreide.

Reis vom Fließband



Als Modellpflanze haben sich die Wissenschaftler um Sauerborn ein wichtiges und zugleich klimarelevantes Grundnahrungsmittel ausgesucht: Reis. Weltweit wird die Reispflanze auf einer Fläche von 157 Millionen Hektar kultiviert. Das entspricht 22 Prozent der globalen Getreideproduktionsfläche. Der Reisanbau verbraucht große Mengen an Wasser - bis zu 30 Prozent der weltweiten Frischwasserressourcen. Zudem entsteht durch Gärprozesse auf den überfluteten Reisfeldern Methangas, das um ein Vielfaches klimaschädlicher ist als CO2. „Man schätzt, dass bis zu 20 Prozent der weltweiten Methan-Emissionen auf das Konto des Reisanbaus gehen“, erklärt der Agrarprofessor.

Auf einem ersten Experten-Workshop Anfang Juli 2010 zum Skyfarming-Projekt haben sich aber nicht nur Agrarwissenschaftler versammelt. Auch Ingenieure, Architekten, Logistikexperten und Ökonomen diskutierten über die Vision des „Hochhaus voller Reisfelder“. Nach den Vorstellungen der Forscher sollen die Reispflänzchen nicht auf statischen Etagen-Feldern gezüchtet werden, sondern auf Indoor-Terrassen, die ständig in Bewegung sind. Auf einem Fließband reisen die einzelnen Reis-Saaten etappenweise voran und legen eine 120-tägige Tour durch das Gebäude zurück, während sie langsam zu erntefähigen Pflanzen heranreifen.

Nährstoffe bekommen die wachsenden Keimlinge über ihre Wurzeln: Im Sekundentakt befeuchtet sie ein feiner Sprühnebel mit dem optimalen Nährstoffmix. Die Pflanzenwurzeln hängen bei diesen sogenannten aeroponischen Systemen in speziellen Kunststoffbeuteln und damit buchstäblich in der Luft. Am Ende der rund viermonatigen Fließbandfahrt können die Reispflanzen geerntet und die leeren Plätze gleich wieder mit neuem Saatgut auf die Reise geschickt werden. Bis zu drei Ernten pro Jahr ließen sich laut Sauerborn in einem solchen Gewächshaus produzieren.

Zudem rechnen die Forscher mit deutlich höheren Ernten: Die aeroponischen Systeme lassen sich leicht schädlings- und keimfrei halten. Und wenn die Pflanzen perfekte Wachstumsbedingungen haben, können sie mehr Erträge liefern. Sauerborn schätzt, dass das Ertragspotential von Reis bei 14 Tonnen pro Hektar liegt - optimale Verhältnisse vorausgesetzt. Auf einem normalen Reisfeld dagegen schrumpft der Ertrag auf rund vier Tonnen pro Hektar, bedingt durch Klimastress, Schädlinge und Krankheitsbefall. Beim Skyfarming-Konzept entspricht ein Hektar Indoor-Fläche durch die bessere Ausnutzung etwa fünf bis sieben Hektar auf dem Acker. Gleichzeitig verbrauchen die Reispflanzen deutlich weniger Wasser: „Mit rund einem Liter Wasser ließe sich so ein Kilogramm Reis produzieren. Der heutige Reisanbau verschlingt etwa 600 bis 900 Liter Wasser pro Kilogramm“, so der Agrarexperte.

Fitnesstraining für Kulturpflanzen



Bis sich Reiskulturen in Gewächshäusern anbauen lassen, werden mindestens noch 15 bis 20 Jahre vergehen, meint Sauerborn. Um bis dahin die wachsende Weltbevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen, müssen die Nutzpflanzen vor allem fit gemacht werden für die sich ändernden klimatischen Bedingungen. Am Innovationszentrum von Bayer CropScience im belgischen Gent forschen Dr. Michael Metzlaff und seine Kollegen daran, Nutzpflanzen resistenter gegen Klimastress zu machen.

„Wir wollen die Pflanzen in die Lage versetzen, trotz schwankender Umweltbedingungen langfristig stabile Erträge auf einem hohen Niveau zu liefern“, so Metzlaff. Zwar haben Nutzpflanzen verschiedene Abwehrmechanismen, um auf Kurzzeitstress zu reagieren. Aber die verbrauchen viel Energie, die dann für das Wachstum fehlt. Die Folge: Enorme Ernteverluste - vor allem durch Trockenheit und Dauerhitze. Mit Hilfe der modernen Genomforschung können die Bayer-Forscher tief ins Erbgut der Nutzpflanzen blicken, Stressmechanismen aufklären und gezielter beeinflussen. „Ein Trick ist, die Gene für die an der Stressabwehr beteiligten Proteine in ihrer Aktivität um das richtige Maß zu drosseln“, so Metzlaff.

Um die Landwirtschaft für die künftigen Herausforderungen zu wappnen und nachhaltig zu gestalten, ist noch viel zu tun - auch wenn viele Technologien für sich bereits existieren. Sie müssen für das System „Vertikale Farm“ neu gedacht und optimiert werden: Zum Beispiel stabile Kunststoffe für die Treibhausfassaden und LED-Leuchten, die das richtige Licht für die pflanzliche Photosynthese produzieren. Aber auch Konzepte zur Wasseraufbereitung und -führung sowie zur Nährstoffversorgung der Gewächse stehen auf der Wunschliste der Agrarforscher. (c) Bayer CropScience
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Kommentare 
Antonietta schrieb am 12.10.2010 17:20 Uhrzustimmen(78) widersprechen(106)
Ohne die massiven Futtermittelimporte aus der sog. "3. Welt" könnten die immensen Fleischberge nicht "produziert" werden. Gleichzeitig hungern die Menschen in den ärmeren Regionen der Welt. 40.000 Kinder sterben täglich, weil ihnen diese Pflanzennahrung fehlt, denn auf den landwirtschaftlichen Flächen dieser Regionen wird Getreide, Soja, Maniok u.a. angebaut, als Futtermittel in Industrieländer gebracht und zur "Veredelung" als Mastfutter verwendet. Außerdem kann aus 10kg Getreide z.B. nur 1kg Rindfleisch "hergestellt" werden. Der Rest wird für die Lebenserhaltung des Tieres verbraucht. Direkt verwendet bieten Getreide und andere Feld- und Waldfrüchte also die 10-fache Menge an Lebensmitteln. Wer sich von Fleisch ernährt, verbraucht also viel mehr an Pflanzen als VegetarierInnen.
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